Rezension von M. Gröls

Sebastian von Eschburg ist der Spross einer alten, jedoch mittlerweile etwas abgewirtschafteten Familie. Nichtsdestotrotz werden die alten Grundsätze hoch gehalten und Sebastian wird auf das Bodensee-Internat geschickt, auf dem schon der Vater und der Großvater waren. Für seine Eltern kann das gar nicht schnell genug gehen: Beide haben einander nichts mehr zu sagen und haben keine Zeit für das Kind. Die Mutter träumt vom mondänen Leben und zeigt Emotionen nur für ihren Reitsport. Der Vater gleitet in den Alkoholismus ab und führt noch ein paralleles Leben andernorts.

Die Heimatbesuche werden seltener, die Kontakte kühler. Der Junge sehnt sich nach Anerkennung und Wärme, die seine Eltern ihm nicht geben können. Zu sehr sind sie mit sich selbst beschäftigt. Dann die Schlüsselszene: Der Vater nimmt sich das Leben, Sebastian sieht bei weitem mehr davon, als es für einen so jungen Menschen gut wäre. Die Mutter wird noch abweisender, der neue Mann ist… sagen wir einfach: Nicht hilfreich. Der Kontakt bricht ganz ab. Sebastian, inzwischen erwachsen, wird definiert durch Einsamkeit und Distanz.

Er flieht in die Fotografie. Er wird zuerst ein gefragter Fotograf, später einer der führenden Fotokünstler des Landes. Sein Thema: Die Unterscheidung von Wahrheit und Wirklichkeit. Was offenkundig wirklich scheint, muss auf einer tieferen Ebene längst nicht wahr sein. Doch die Vergangenheit holt ihn ein. Brachial und unabwendbar.

Eine sehr junge Frau ruft bei der Polizei an. Sie habe Angst, sagte sie. Sie liege in dem Kofferraum eines Autos. Der Mann habe ihr in den Kopf gebissen. Dann nennt Sie die Adresse ihres Entführers: Sebastian von Eschburg. Die Polizei verhaftet den Starfotografen und sammelt belastende Indizien. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Ein Polizist droht Eschburg mit Folter um den Aufenthaltsort der vermissten Person zu erfahren. Er nennt es Rettungsfolter. Eschburg gesteht alles, doch die Leiche bleibt verschwunden. Konrad Biegler, der chronisch schlecht gelaunte Starjurist, soll die Wahrheit zutage fördern. Das Ende: Überraschend. Einziger Hinweis: „All the World is a Stage…“, selbst Polizei und Gericht wird nur eine Rolle zugewiesen.  

Rezension:



Egal ob ZEIT, Süddeutsche oder FAZ: Ferdinand von Schirach hat viele Prügel bekommen für seinen neuen Roman. „Um es deutlich zu sagen: Ferdinand von Schirach kann nicht schreiben“, textet reißerisch Ulrich Greiner in der ZEIT, der ohnehin gern das Kind mit dem Bade ausschüttet.

Um es ebenso klar zu sagen: Schirach ist natürlich ein ausgezeichneter Autor und „Tabu“ ist ein gelungenes Buch: Auf 254 Seiten zeichnet er das Bild eines hochbegabten und zerrissenen jungen Mannes, der den Ausweg aus einem emotionalen Dilemma sucht, dass ihm andere zugefügt haben. „Was ist Schuld“ ist die Frage, die auch in „Tabu“ immer wieder allgegenwärtig ist, wie auch schon in den früheren Werken Schirachs. Die Wendungen sind überraschend. Nicht nur inhaltlich, auch konzeptionell. Zunächst denkt man: Noch so ein Buch, dass Gewaltexzesse mit kindlichen Erlebnissen erklären, womöglich legitimieren möchte. Doch es ist komplexer als das.

Schirach traut sich dabei wie nebenbei an eines der größeren Themen der Rechtsphilosophie der vergangenen Jahre: Die Frage der Folter in Notwehrsituationen. Der Bezug zum Entführungsfall des Frankfurter Bankiersohnes Jakob von Metzler ist offenkundig. Und mit wenigen Pinselstrichen macht er deutlich, worauf es ankommt: Gut gemeint, ist nicht gut gemacht. Und etwas kann zugleich völlig richtig, vielleicht notwendig und doch abgrundtief falsch sein. Im Kreuzverhör mit dem Vernehmungsbeamten hält der Anwalt inne:

‚“Er ist ein anständiger Mann“, dachte Biegler. „Er macht alles falsch, aber ich würde ihm meine Familie anvertrauen.“‚

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Ferdinand von Schirach (Foto: Tom Wagner)

Stilistisch ist Schirach ein Minimalist. Handke nicht unähnlich, ist er ein Meister des lakonischen Reduktionismus. Schirach schreibt, was ist. Seine Sprache ist gerade wegen ihrer Einfachheit, den bar aller störenden Schnörkeleien oder wie die fiesen Kritiker sagen „aneinandergereihten, schlichten Hauptsätzen“, den komplexesten Themen gewachsen. Nur wer seine Thesen in klare, schlichte Sätze fassen kann, beherrscht sie wahrhaft. Ein Jurist hätte das gewusst.

Interessant ist auch Schirachs Angewohnheit, Figuren durch Kosenamen lächerlich zu machen. Wenn ein Blödmann namens, sagen wir Maier, sich im Gespräch selbst als „Macher“ bezeichnet, dann wird Schirach ihn bis zum Ende des Buches nur noch als „Macher“ titulieren. Der Macher kommt in die Küche, der Macher hat Augenringe…. Er wendet diese Angewohnheit nur auf seine unsympathischen Figuren an.

tabu2Doch ja, es bleibt auch Luft nach oben. Auf wenig Raum versucht Schirach redlich, seinen Figuren Tiefe zu geben. Der Künstler und seine Freundin, der Staranwalt und die Staatsanwältin. Sogar der Polizist. Bei allen wird deutlich: Es sind komplexe, interessante Menschen. Leute, mit denen man gerne einmal einen Abend verbringen möchte. Doch würde man sich als Leser freuen, wenn sich Schirach nach „Der Fall Collini“ und nun „Tabu“ entschließen möchte, umfänglichere Romane zu schreiben. Konzeptionell ist der Plot durchdacht: Die Kunst legt sich über die Wirklichkeit und fördert damit die tiefere Wahrheit zu Tage. Doch verdient all das eine noch tiefere Betrachtung und weitere Blickwinkel. Warum zum Beispiel heißt das Buch „Tabu“? Das wird nicht ganz deutlich. Es mag sich auf das Folterthema beziehen, doch ist dieses nur ein Nebenthema.

Ferdinand von Schirach ist natürlich längst ein international etablierter Schriftsteller, gar ein zuverlässiger Autor von Bestsellern, dessen Romane stets gute Unterhaltung versprechen. Sein bestes Buch jedoch, auch das steht fest, wird er erst noch schreiben.

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