Inhalt und Rezension
Rezension von Beste Bücher
Das Buch beginnt 16 Jahre nach dem tragischsten Ereignis im Leben des jungen Tzukuru Tazaki: Damals war er Teil einer eingeschworenen Fünferbande, eine anhängliche und auf einander abgestimmte Gruppe von Freunden, wie man sich vielleicht einmal, wahrscheinlicher aber nie im Leben trifft. Die fünf Jugendlichen liebten die Vorstellung, das ihr Bund vollkommen harmonisch ist und jeder auf den anderen angewiesen ist, während er zugleich selbst Halt gibt. Drei Jungs und zwei Mädchen.
Vier von ihnen teilen eine kaum erwähnenswerte und doch für dieses Buch zentrale Eigenschaft: Sie tragen Nachnamen, die eine Farbe beinhalten; etwa „Rotkiefer“ oder „Weiße Wurzel“. Nur Tzukuru nicht und darunter leidet er beachtlich: Ständig macht er sich Sorgen, die Gruppe könnte ihn ausschließen. Die Sorge reicht freilich tiefer als bis zum Nachnahmen. Denn passend zu diesen hat er tatsächlich das Gefühl, farblos zu sein, zu wenig zur Gruppe beitragen zu können. Während er allen anderen irgendwelche herausragenden Eigenschaften und Fähigkeiten attestiert, geht er mit sich selbst hart ins Gericht und sieht sich als mittelmäßig in allem, was er tut. Die fehlende Farbe im Nachnamen erscheint ihm da als passende Metapher.
Das traumatische Ereignis ist nun der Ausschluss aus der Gruppe. Eines Tages teilt man ihm völlig unvermittelt und unversöhnlich mit, dass er sich nicht mehr melden solle. Der Kontakt zu ihm sei fortan unerwünscht. Den Bann tragen alle vier. Warum und wieso – das „wisse er selbst wohl am besten“; eine Erklärung wird nicht gegeben. Was darauf folgt ist ein Martyrium der Selbstfindung und ein tiefes Versinken in Depression. Tzukuru trägt sich mit Selbstmordgedanken und schwebt ein halben Jahr am Rande von Leben und Tod. Der ohnehin schmächtige Junge verliert radikal an Gewicht und kappt alle sozialen Verbindungen. Dabei kommt ihm gelegen, dass er nicht mehr in seiner Heimatstadt Nagoya sondern im wenig entfernten Tokio weilt, wo er ein Studium absolviert, um Ingenieur zu werden.
Nach diesem halben Jahr befreit er sich zwar aus seiner Umnachtung, doch ist er nicht mehr derselbe wie zuvor. Seine Gesichtszüge haben sich verändert, sein Blick, seine Haltung. Tzukuru Tazaki ist zu einem jungen Mann geworden, der fortan Bindungsprobleme haben wird und nicht leichtfertig Menschen in sein Leben treten lässt. Als er 36 Jahre als ist trifft er Sara, die er dann allerdings schon gerne in seinem Leben haben möchte – doch Sara verlangt, dass er dazu die Geschichte von damals aufarbeitet. Es gilt herauszufinden, weshalb man ihn so radikal verstieß. Also macht Tazaki sich auf und findet seine ehemaligen Freunde, einen nach dem anderen.
Die Spannung ziehen „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ aus diesem Umstand, also daraus, dass der Protagonist vor die Tür gesetzt wurde und man nun gerne wissen möchte, was es damit auf sich hat. Das man das Buch deshalb nun „atemlos“ liest, wie Iris Radisch meint… das mag einer jeder für sich selbst herausfinden. Reizvoll sind die Perspektivwechsel zwischen altem und aktuellem Leben; zwischen den Theorien der Wirklichkeit, die Murakami seine Protagonisten vor dem Leser ausbreiten lässt und der Wirklichkeit, wie sie sich für die Handelnden wirklich darstellt; reizvoll auch die Einblicke in die wechselnden Gefühlslagen des jungen Japaners.
Schon klar – Haruki Murakami ist ein Meister der Erzählkunst und ein abgeklärter Bestsellerautor. Das schreiben alle Feuilletons in der ein oder anderen Variante und es ist gewiss zutreffend. Er kommt mit leisen Tönen aus und nimmt uns damit doch mehr ein, als so manches Getöse. Leicht esoterisch muten manche Szenen trotzdem an. Die ewigen Bezüge auf Träume, die alle unbedingt was zu bedeuten haben müssen, können auch auf die Nerven gehen. Völlig unvermittelt und ohne jeglichen Bezug zum Rest des Buches lässt uns Murakami an einer homoerotischen Szene in einem Traum Tazakis teilhaben, die eigentlich nur ziemlich verstörend und widerlich ist. Das ältere Autoren ihre Werke mit ihren sexuellen Fantasien überziehen ist natürlich beileibe nicht neu.
Murakamis Thema ist das Schicksal. Man spürt in jedem Satz die Schicksalsgläubigkeit. Das allmächtige Gewicht der Vorsehung, der nicht zu entrinnen ist und die sich wie ein unsichtbarer Fahrplan über alle Entscheidungen und Weggabelungen des Lebens legt. Dabei lässt der Autor zumeist offen, ob der eingeschlagene Weg zum Vorteil oder zum Nachteil gereicht – stets ist beides denkbar. So auch in der Liebe. Jede Entscheidung repräsentiert zugleich Vorteil und Risiko. Doch sein Held stellt sich seinen Ängsten und seiner Vergangenheit, zerrt so viel wie möglich davon ans Licht. Am Ende wird deutlich: Es sind eben auch die frühen Jahre des Erwachsenwerdens die uns prägen und die Freunde, die Bezugsgruppe die wir in dieser Zeit hatten – nicht nur die Familie. So zugespitzt wie bei Murakami wird es dabei typischerweise zwar nicht zugehen, als Grundaussage bleibt es gleichwohl bestehen.
Infos
Die Pilgerjahre beim Verlag Dumont
Rezension auf Spiegel Online: Murakami; Pilgerjahre
Rezension der FAZ: Murakami; Pilgerjahre
Rezension der ZEIT / Iris Radisch: Murakami; Pilgerjahre
Rezension auf Süddeutsche.de: Murakami; Pilgerjahre