Rezension von M. Gröls
In „Kindeswohl“, dem 13. Roman von Ian McEwan, schildert der britische Bestsellerautor auf 223 Seiten die richterliche Entscheidungsfindung einer erfahrenen und engagierten Londoner Familienrichterin.
Fiona Maye geht auf die sechzig zu und hat bislang schon ein ereignisreiches berufliches und privates Leben gelebt. Mit ihrem Mann, einem angesehenen Professor, ist sie seit ihren Jugendjahren verheiratet. Sie ist leidenschaftlich und doch vernünftig, musisch gebildet und geistreich. Doch es war nicht alles nur großartig: Dass das Paar keine Kinder, ergab sich eher als dass es gewollt war und beide haben über die Jahre sehr viel Zeit für ihren Beruf und ihre Karriere verwandt. All diese Eigenschaften werden eines Tages auf die Probe gestellt, als sie sowohl in ihrer Ehe als auch durch einen aktuellen Fall an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht wird.
In „Kindeswohl“ erzählt McEwan letztlich drei Geschichten, die nicht viel mehr gemein haben, als ihre Hauptfigur Fiona. Die Hauptgeschichte handelt von Adam, einem fast achtzehnjährigen an Leukämie erkrankten Zeugen Jehovas, der im Einvernehmen mit seinen Eltern eine vermutlich lebensrettende Bluttransfusion aus Glaubensgründen ablehnt. Nach deren Interpretation einiger weniger Textstellen der Bibel sind Bluttransfusionen von Gott nicht gewollt. So sehen das die Zeugen Jehovas und auch die sogenannten „Ältesten“, also die Geistlichen, die Adam regelmäßig im Krankenhaus aufsuchen und versprechen, dass sich seine Standhaftigkeit glaubensstärkend auf seine Glaubensbrüder auswirken wird. Das infolge der Leukämie ein schmerzhafter und von Panikattacken begleiteter Tod durch Ersticken droht, ändert an den Grundsätzen nichts. Das behandelnde Krankenhaus begehrt vor Gericht die zwangsweise Anordnung der Behandlung gegen den Willen der Familie.
Geschickt führt Ian McEwan hier durch das Wirrwarr moralischer und – davon säuberlich getrennt – rechtlicher Überlegungen, die Richterin Maye bei der Entscheidungsfindung anzustellen hat. Es sprechend handfeste Argumente für ein stattgebendes Urteil wie auch für ein ablehnendes Verdikt.
In der zweiten Geschichte entwickelt sich nunmehr eine ungewöhnliche und vor erotischen Spannungen begleitete Beziehung der Richterin zu einem Patienten, dem sie durch ein Urteil das Leben „gerettet“ hat. Der junge Mann trifft dabei eine Reihe von Entscheidungen, die wenig erwartbar waren und wünscht sich von der Richterin, die doch schließlich über ihn zu Gericht gesessen hat, auch nach dem Abschluss des Falles eine Mentorenrolle.
Die dritte Geschichte schließlich handelt von ihrem Mann, der in seinem neunundfünfzigsten Lebensjahr in eine handfeste Midlife-Krise gerät und Fiona einen Vorschlag macht, der sie in eine schwierige Lage bringt. Sie kann weder zustimmen noch ablehnen, ohne dadurch sehr unerwünschte Konsequenzen für sich selbst zu verursachen.
Wie üblich schreibt McEwan auf hohem handwerklichen Niveau und ist gleichermaßen unterhaltsam wie anregend in der Lektüre. Eine seiner Stärken besteht zweifellos auch darin, immer wieder überraschende Momente zu integrieren, mit denen man als Leser kaum rechnen konnte. In „Kindeswohl“, das sei als einzige Kritik vermerkt, hängen die Handlungsstränge allerdings wie zufällig zusammen. Die drei Geschichten wären für jeweils sich lebensfähig gewesen, keine bedingt die andere oder erscheint als wenigstens naheliegende Konsequenz. Dadurch fehlt es dem Roman in gewisser Weise tatsächlich an Stringenz. Ein Umstand, den man einem tausendseitigen Werk noch eher durchgehen lässt, als einem Autor, der seine Geschichte auf knappen 223 Seiten entwickelt.