Rezension von Amir
Herrn Stavarič will anscheinend hoch hinaus!
Der berühmteste Roman des Herrn Stavarič, geboren in Brno (Tschechien) 1972 und derzeit als Autor, Übersetzer, Kolumnist und Kritiker aktiv, ist nichts für jedermann! Ja, das muss man sofort am Anfang sagen. Der „in medias res“-Einstieg deutet auf eine spannende, sich schnell entwickelnde Kurzgeschichte wie bei Borchert oder Böll, die romantischen und existenzialistischen Äußerungen erinnern an vorige, bessere Zeiten und der namenslose Ich-Erzähler, von dem wir alles erfahren, jedoch nichts Sonderbares wissen und der uns einfach nur ein großes Fragezeichen ist und bleibt, spielt mit unseren Nerven und manchmal möchte man ihn erwürgen und endlich Tatsachen hören! Ja, das ist Stavarič und deswegen mag ich ihn auch!
Der Roman spielt in einer fernen Siedlung, die ihre bessere Tage hinter sich hat – als eine rurale Gegend, an der anscheinend kein vitales Interesse der anderen Gemeinschaften herrscht, geriet sie in Vergessenheit und allein wegen der Distanzierung und (anscheinend) wegen der schweren Erreichbarkeit zu diesem vergessenen Plätzchen, entwickeln sich die abgeschotteten Einwohner auf ihre ganz eigene, komische Art und Weise – es werden neu Bräuche erfunden, man glaubt noch an Geister, die auf den Birken leben und daher darf man die gleichen nicht fallen, sonst würde man ihren Zorn erwecken und alte Fähigkeiten (klettern, schießen, Tiere ausstopfen usw.) werden gepflegt und weiterentwickelt – nach dem Sinn einer solchen „Bildung“ fragt man nicht.
Ein moderner Reiner Maria Rilke des 21. Jh.!
Allgemein sehen wir eine uns unbekannte Welt durch die Augen eines Kindes, das ohne seine Mutter aufwächst, das keine richtige Bildung hat und dessen Vormund, Freund und Idol, sein Onkel, ihn für diese Welt bereit macht, für ihn sorgt und ihn vor den fiesen Fallen, genannt Mädchen, schützt – und das war es auch!
Wer hier Aktion erwartet, wird das Buch aus dem Fenster werfen! Dieses Werk von Stavarič ist eher was für die Feinschmecker unter uns, denn die versteckten Metaphern, die unübersehbare Zweideutigkeit der Zeit (gestern, heute, morgen, wenn kümmert das schon? Hier verliert die Chronologie ihre Bedeutung) und das außerordentliche Schreibtalent, das hier unübersehbar ist, heben das Werk empor in eine Welt, die in der Zeit der „modernen, trivialen Literatur“ für 99% der Werke unerreichbar scheint! Die alleinige Tatsache, dass man die Handlung in nur ein paar Wörtern beschreiben kann, spricht für sich: Irgendwie erinnert mich Stavarič an einen modernen R.M. Rilke des 21. Jh.!
Ein besonderes Brauchtum, das auch von dem Onkel des Ich-Erzählers ins Leben gerufen wurde, sind die Brenntage – „am ersten Tag des Herbstes“ fanden sie statt, denn „die ganze Siedlung war schon in aller Früh auf den Beinen, und pünktlich, wenn die Sonne sank, ging die Vergangenheit in Flammen auf.“ Alles, was man nicht brauchte und die „ausgediente Relikte einer immer ferner gewordenen Kindheit“ wurde gnadenlos verbrannt – sogar manche Gegenstände, die der Ich-Erzähler noch gebrauchen konnte, wurde in die Obhut der Flammen geworfen; das Spiel mit der Zeit, das Schwanken von heute auf morgen und die starke Symbolik der Flamme als erleuchtendes Medium, als Medium des Fortschrittes und der Prosperität steht im Paradox mit dem alleinigen Ich-Erzähler und allgemein mit seinem Lebensumfeld.
Stavarič schrieb hiermit einen so starken Roman, dass man ihn tausendmal durchlesen muss, um ihn komplett zu verstehen – ich würde Ihn sogar sofort, wie gesagt, als den neuen R.M. Rilke bezeichnen, nur habe ich den Mut noch nicht dazu gefunden. Hoffentlich wird sich das in den kommenden paar Jahren ändern, denn ich erwarte noch große Werke von Ihm!
Weitere Infos
Michael Stavarič ( 7. Januar 1972 in Brno) ist ein österreichisch-tschechischer Schriftsteller und Übersetzer, der als Siebenjähriger aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich kam, obwohl seine Familie erst nach Kanada auswandern wollte – zum Glück haben sie das nicht gemacht!
Er schrieb unter anderem Essays, Kinderbücher und Bestseller und ist als Übersetzer tätig – seine Werke sind von einem sehr ausgeprägten Schreibstil, der für die heutige Zeit eher untypisch ist, geprägt.
Unter dem Dutzend erhaltenen Preisen ist sicherlich der Adelbert-von-Chamisso-Preis einer der wichtigsten in seiner bisherigen Karriere – sicherlich werden noch viele folgen.
Meine Bewertung
(O – war grausam!! 10- exzellentes Buch!!)
Historischer Wert: 0-10: 8
Spannung: 0-10: 7,50
Lesefreude: 0-10: 8
Muss-man-gelesen-haben: 0-10: 7