Uwe Timm arbeitet in „Am Beispiel meines Bruders“ einen Teil seiner eigenen Familiengeschichte auf. Das er damit sechzig Jahre nach dem Tod seines Bruders wartete, mag den sehr persönlichen Schilderungen geschuldet sein, denen der Leser hier begegnet. Der Bruder nämlich gehörte der Waffen-SS an und diente an der russischen Front, wo er in einem Tagebuch die Geschehnisse und seine Gedanken dazu zu Papier brachte.
Für damalige Zeit nicht ungewöhnlich war der große Bruder, Karl-Heinz, für nationalsozialistisches Gedankengut mehr als empfänglich, so dass es wenig verwundert, dass die Familie nach dessen Tod an der Ostfront 1943 lange Zeit die politische Orientierung des Gefallenen verschwieg. Als Panzerpionier gehörte er einer Einheit an, die aus der Wachmannschaft des Konzentrationslagers Dachau gebildet wurde – keine Umgebung, in der junge Menschen zu, sagen wir, humanistischen Wertvorstellungen hingeführt werden.
Einschneidend war eine Verwundung am 19. September 1943, bei der der junge Mann schwer verletzt wurde. Er schrieb: Mein Lieber Papi, leider bin ich am 19. schwer verwundet, ich bekam ein Panzerbüchsenschuss durch beide Beine die sie mir nun abgenommen haben. Dass rechte Bein haben sie unterm Knie abgenommen und dass linke Bein wurde am Oberschenkel abgenommen. Sehr große Schmerzen hab ich nicht mehr tröste die Mutti es geht alles vorbei in ein paar Wochen bin ich in Deutschland, dann kannst Du mich besuchen. iIh bin nicht waghalsig gewesen. Nun will ich schließen. Es Grüßt Dich und Mama, Uwe und alle. Dein Kurdel.
1943 starb Karl-Heinz Timm in einem ukrainischen Feldlazarett. Uwe Timm war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt. Timm beschreibt die Irrungen und Wirrungen dieser Zeit sehr anschaulich. „Und dann, eines Tages, redeten die Erwachsenen auf mich ein, verboten mir, was ich doch eben erst gelernt hatte: die Hacken zusammenzuschlagen. Und Heil Hitler zu sagen. Hörst du. Auf keinen Fall! Das wurde dem Kind leise und beschwörend gesagt. Es war der 23. April 1945, und die amerikanischen Soldaten waren in die Stadt eingerückt.“
Reflektierend und ohne ins Schwadronieren abzugleiten, beschreibt Timm hier einen dunklen Fleck in seiner Familiengeschichte, den andere so oder ähnlich auch haben, aber aus guten Gründen verschweigen. Nachdenklich stellt er sich der Kultur des Verdrängens und „Nicht-aussprechen-Wollens“ jener Zeit und bringt diffuse und konkrete Ängste auf den Punkt. Dabei kann er sich nur teilweise auf eigene Erinnerungen stützen – damals war er selbst noch ein Kleinkind – und arbeitet vielmehr wie ein außenstehender Chronist die Hintergründe der damaligen Umstände auf. Timm ist damit ein Stück Literatur geglückt, dass guten Gewissens als Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur gelten darf.