„Sexappeal hat doch letztlich nur, wer cool bleibt…“
Der Manesse Verlag gehört zu den bekanntesten und profiliertesten Verlagen im deutschsprachigen Raum. Es gibt wohl keinen Literaturliebhaber, der nicht das ein oder andere edle Erzeugnis der stilistisch ansprechenden Manesse-Bände im heimischen Regal stehen hat. Viele der wichtigsten Bücher der Literaturgeschichte, von Max Frisch mit „Stiller“ bis zu Victor Hugos „Die Elenden“ werden von Manesse herausgegeben. Wir haben mit dem Verlagsleiter, Dr. Horst Lauinger gesprochen.
FaBü: Herr Dr. Lauinger, der Manesse Verlag gibt viele der Bücher heraus, die allgemein zu den wichtigsten der Welt gezählt werden. Können sich solche Klassiker noch gegen moderne Autoren wie Dan Brown oder Ken Follett behaupten, oder haben Sie den Eindruck, dass das Interesse abnimmt?
Dr. Lauinger: Das Interesse an Klassikern ist nach wie vor gegeben, allerdings merken wir, dass dieses verstärkt durch unmittelbare Anlässe wie Jubiläen oder Neuübersetzungen geweckt werden muss. Die Selbstverständlichkeit, mit der ein bildungsbürgerliches Publikum seinerzeit regelmäßig einen Goethe, einen Fontane, einen Balzac oder auch einen Homer zur Hand genommen hat, ist doch deutlich im Schwinden begriffen. Deshalb gilt mein verlegerisches Augenmerk immer stärker der gezielten Neuentdeckung und Vermittlung.
FaBü: Rankings wie das der ZEIT oder der britischen BBC haben verschiedene Ansätze, um die „besten“ Bücher zu ermitteln. Naturgemäß bleiben da viele Werke auf der Strecke. Wie beurteilen Sie solche Bestenlisten?
Dr. Lauinger: Wenn durch Bestsellerlisten plötzlich von Büchern die Rede ist, über die sonst der Mantel des Schweigens gebreitet bleiben würde, so haben solche Rankings einen gewissen Zweck erfüllt. Allerdings weiß jeder, der gerne liest, dass sich die Weltliteratur nicht auf einige wenige Namen oder Werke reduzieren lässt. Wie ja überhaupt die übliche „best of“-Klassifizierung etwas Gewolltes hat: Ist Schiller „wichtiger“ als Flaubert? Thomas Mann „bedeutender“ als Anton Tschechow? Tania Blixen „faszinierender“ als Jane Austen? Diese und andere Fragen – das ist das Schöne, Spannende daran – darf sich jeder Leser ganz individuell stellen und völlig subjektiv beantworten!
FaBü: Gut, trotzdem gibt es verschiedene Ansätze. Es gibt ja die Möglichkeit, solche Literaturkanones von Literaturexperten zusammenstellen zu lassen oder aber im großen Stil die Bevölkerung zu befragen. Welchen Ansatz halten Sie für den besseren?
Dr. Lauinger: Der literarische Kanon ist dann ein lebendiger, wenn er in Bewegung bleibt. Literaturexperten, so belesen sie sein mögen, neigen oft zu forcierter Originalität und gewichten letztlich doch immer nach subjektiven Vorlieben. Die Masse wiederum urteilt strikt nach dem Prinzip der Mehrheitsfähigkeit bzw. des kleinsten gemeinsamen Nenners. Beide Evaluierungsmethoden haben somit ihre Stärken und Schwächen. Übrigens: Auch der Manesse Verlag schafft durch seine Auswahl in der „Bibliothek der Weltliteratur“ eine Art Kanon – allerdings (ganz wichtig!) keinen autoritären des Lesen-Müssens, sondern einen anregenden des Lesen-Dürfens. Ambitionierte Klassikervermittlung, wie ich sie verstehe, ist in allererster Linie eine Anstiftung zu Neuentdeckungen. Dient ein Kanon, einerlei, auf welchem Wege er zustande gekommen ist, als Anregung, lesender Weise Horizonte zu erweitern und weltliterarisches Neuland zu entdecken, so ist er mir persönlich am sympathischsten.
FaBü: Es fällt auf, dass die geläufigen Ranglisten der wichtigsten Werke der Weltliteratur einen starken westlichen Schwerpunkt haben. Wie erklären Sie sich das?
Dr. Lauinger: Die ausgeprägte Dominanz des Westens, namentlich des amerikanischen, hat vielerlei Gründe. Die enorme Anziehungskraft der US-Kultur, ihr Quasi-Monopolcharakter im globalen Wettbewerb etwa ist historisch gewachsen und wird sich irgendwann sicherlich auch wieder relativieren. Manche meinen ja, der Abstieg habe schon begonnen. Das Gefälle im internationalen Kulturaustausch spricht nach wie vor eine deutliche Sprache, und das Lizenzgeschäft spiegelt es zuverlässig wieder. Was unsere eigene Westorientierung anbelangt: Das uns Vertraute und Naheliegende ist tendenziell leichter verständlich, damit eingängiger für die Mehrheit der Leser, folglich gefragter. Exotik und Fremdheit haben durchaus ihren Reiz, lassen sich aber nicht für jedermann ohne weiteres erschließen. Ein Blick in die Literaturgeschichte der Welt zeigt immerhin, dass selbst kleine, vormals randständige Sprachgemeinschaften unvermittelt ins Zentrum des Interesses rücken können, vor hundert Jahren etwa die Skandinavier: Ibsen und Strindberg und Hamsun und Bang und Söderberg, jeder für sich ein Schwergewicht, haben eine tonangebende Rolle für die europäische Moderne gespielt.
FaBü: Die Skandinavier sind ein gutes Beispiel. Aber denken Sie, dass man im Zuge der Globalisierung künftig Werken aus China oder dem Nahen Osten mehr Gewicht geben wird?
Dr. Lauinger: Die Trends, Tagesmoden und Vorlieben ändern sich auch in der Literatur verlässlich, wenn auch nicht ganz so rasch wie anderswo. Doch die Attraktivität von Sprachen und literarischen Werken wächst mit der Anziehungskraft ihrer Kulturen. Wer weiß, vielleicht denkt sich in zwanzig Jahren niemand mehr etwas dabei, wenn die deutschen Bestsellerlisten von „Orientalen“ dominiert werden.
FaBü: Etwas mehr „orientalischer“ Einfluss wäre aus unserer Sicht jedenfalls belebend. Die BBC hat ungefähr 750.000 Britten nach ihren Lieblingsbüchern gefragt, nur eines – „Parfüm“ von Patrick Süskind – ist von einem deutschen Autor. Kein Kafka, kein Goethe, keine Manns. Müssten wir mehr für deutschsprachige Autoren werben?
Dr. Lauinger: Kulturtransfers sind eine komplexe Sache. Etwas mehr Selbstbewusstsein und Ambition würden uns nicht schaden, um international zu höherem Ansehen zu gelangen. Ob wir allerdings mit verzweifelten Willensakten dahin gelangen, dass in England, Frankreich oder den USA wieder verstärkt Goethe, Thomas Mann oder Arthur Schnitzler gelesen werden, wage ich zu bezweifeln. Sexappeal hat doch letztlich nur, wer cool bleibt…
FaBü: Schönes Schlusswort! Herr Dr. Lauinger, wir bedanken uns herzlich für das Gespräch.