Rezension von Sarah
Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde im Jahr 1821 als Sohn eines russischen Arztes geboren, sein Studium führte ihn 1838 nach St. Petersburg. Militärische Ingenieurstechnik war sein Fachgebiet, doch nebenher zog es ihn auch zu den Vorlesungen über französische, deutsche und russische Literatur. Friedrich Schiller prägte sein Denken, ebenso wie die Werke des ukrainisch-russischen Schriftstellers Gogol und die Ideen des Franzosen Honoré de Balzac.
Dostojewski war also ein Mann, der über den Tellerrand zu blicken vermochte, sowohl fachlich als auch länderübergreifend. Dass seine tiefste Leidenschaft der Schriftstellerei galt und nicht dem technisch-militärischen Fachgebiet, zeigte die erste Entscheidung, die er direkt nach dem Studium traf: Der junge Mann nahm 1843 einen wenig lohnenswerten Posten als Militärzeichner an, damit er in St. Petersburg bleiben und möglichst viel Zeit dem Schreiben widmen konnte. Als seine Vorgesetzten ihn versetzen wollten, reichte er prompt sein Abschiedsgesuch ein – und damit war die Zeit gekommen, sich selbständig durch die Schriftstellerei zu ernähren: Ein waghalsiges Unterfangen, denn dadurch lauerte die drohende Armut direkt hinter der nächsten Tür! Ein Studienkollege kontaktierte einen einflussreichen Literaturkritiker jener Zeit, der wiederum eine erste Lesung in den Räumen eines bekannten Publizistenpaares arrangierte. Vitamin B war also auch schon zu damaligen Zeiten äußerst hilfreich, doch ohne das nötige Talent wäre Dostojewski trotzdem an dieser Schwelle gescheitert.
Sein ältestes bis heute erhaltenes Werk stellt der Briefroman „Arme Leute“ dar, den er in den Jahren 1844 bis 1845 anfertigte. Die vorangegangenen schriftstellerischen Versuche sind leider verschollen. Bereits in jenen frühen Tagen zeigte sich seine unnachahmliche Art, die Härten des Lebens auf emotional anspruchsvolle Weise darzustellen, aus diesem Grund wurde der erste Roman zu einem wahren Erfolgsprojekt! „Arme Leute“ erschien zu Beginn des Jahres 1846 in der Zeitschrift „Petersburger Anthologie“ und begeisterte die St. Petersburger Intellektuellen: Der Weg für eine große schriftstellerische Karriere war frei! In den folgenden 20 Jahren erlebte Dostojewski zahlreiche Höhenflüge und Abstürze, vielleicht wurde sein Feinsinn dadurch umso mehr geschärft.
1866 geriet der Ausnahme-Schriftsteller in finanzielle Nöte – und zugleich übte sein Verlag heftigen Druck auf ihn aus. Der Vorschuss für seinen neuesten Roman war bereits verpulvert, das Werk aber noch nicht abgeliefert, die verbleibende Frist allzu eng. In seiner Not entschied sich Dostojewski dafür, ein ihm allzu bekanntes Thema aufzugreifen, um sich die Sache zu erleichtern und die Arbeit im selben Atemzug zu beschleunigen: Es sollte ein Buch entstehen, das in der fiktionalen Stadt Roulettenburg spielt und dessen Handlung sich um das klassische Casinospiel Roulette dreht.
Fjodor Dostojewskis Arbeit erhielt ganz automatisch autobiographische Züge, denn der Autor war selbst ein großer Freund des Casinoparketts und insbesondere vom bekannten Kesselspiel, dessen Regeln aufgrund der Tatsache, dass es nur drei unterschiedliche Roulette Wetten gibt, sehr einfach zu erlernen sind. Trotzdem begeisterte Roulette damals gleichermaßen alle Klassen – und tut dies auch noch heute. Der perfekte Ort also, um sich als Schriftsteller inspirieren zu lassen. Um dann die gesamte Geschichte seiner Anna zu diktieren, die in der Stenographie geübt war, benötigte er aufgrund seiner Erfahrungen nur 26 Tage. Der ohnehin schon verärgerte Verleger Stellowski, der eine schlussendliche Frist bis zum 31. November 1866 gesetzt hatte, verließ einen Tag vor Abgabeschluss die Stadt, um die Manuskriptübergabe zu blockieren. Doch Anna kam auf den rettenden Gedanken, das Geschriebene einem Notar anzuvertrauen, der somit die rechtzeitige Fertigstellung rechtsgültig bezeugen konnte. Der vom Autor vorgeschlagene Titel aber, „Roulettenburg“, kam beim Verleger nicht gut an und wurde kurzerhand durch „Der Spieler“ ersetzt. Auch dieses Werk wurde zum Erfolg und begeistert heute noch literarisch interessierte Menschen in aller Welt.
Nun endlich zum Buch selbst, über dessen Entstehungsgeschichte bereits so viel gesagt wurde: Das legendäre Roulettenburg existiert natürlich nur im Roman, doch es besitzt ganz reale Vorbilder, und zwar in Deutschland. Die Städte Wiesbaden und Bad Homburg nehmen jeweils für sich Anspruch, das reale Roulettenburg zu sein, denn hier hielt sich der Schriftsteller gern zu seinen häufigen Casinobesuchen auf und sammelte wahrscheinlich recht ähnliche Erfahrungen wie seine Romanfigur Aleksej Iwanowitsch. Die gesamte Geschichte ist aus der Ich-Perspektive erzählt, so gewinnt der Leser eine größtmögliche Nähe zum Geschehen und wird förmlich in die Handlung hineingezogen.
In Roulettenburg wartet ein russischer General ungeduldig auf das Ableben seiner reichen Erbtante, um sich seiner Spielschulden zu entledigen. Er steht bei dem Möchtegern-Kavalier seiner Stieftochter Polina tief in der Kreide, einem Franzosen namens de Grieux. Ganz nebenbei schielt der hochrangige Militär darauf, die Finanzspritze für eine Hochzeit mit der schönen Mademoiselle Blanche zu nutzen, die ihm als unwiderstehliche Verlockung erscheint. Aleksej Iwanowitsch dient dem General als Hauslehrer und befindet sich dort mitten im Sturm seiner Emotionen: Der junge Mann liebt Polina, die ihm jedoch ihrerseits nur mit beißendem Spott begegnet. Eines Tages steht die springlebendige Erbtante vor der Tür, die ganz sicher nicht daran interessiert erscheint, vorzeitig diesen Erdball zu verlassen. Sie teilt dem General unverblümt mit, dass von ihr kein Geld zu erwarten ist, und stürzt sich danach ins Spielbankvergnügen, wo sie ein beachtliches Vermögen verliert. Da nun weder bei Polina noch bei ihrem Stiefvater irgendwelche geldwerten Vorteile zu erwarten sind, machen sich de Grieux und Mademoiselle Blanche aus dem Staub.
Aleksej ergreift seine Chance, er gesteht Polina seine Liebe und begibt sich ins nächste Casino, um den General und seine Angebetete vor dem Ruin zu retten. Tatsächlich gewinnt er 100.000 Florins – und findet prompt Gefallen. Polina sucht das Weite, und Aleksej wird zum verhätschelten Schoßhündchen der Mademoiselle Blanche, die sein gewonnenes Vermögen nutzt, um sich einen Titel zu erheiraten und in Luxus zu schwelgen. Schlussendlich tut sich der junge Hauptcharakter mit dem General zusammen, der sich inzwischen in eine frustrierte Lethargie geflüchtet hat, und verdient seinen Lebensunterhalt in den ehrwürdigen deutschen Casinostädten als Lakai. Als Polina ihm ausrichten lässt, dass sie nun doch in echter Liebe zu ihm entbrennt, berührt ihn das nicht mehr.
Die recht kurz gehaltene Geschichte liest sich nicht annähernd so deprimierend, wie sie in der Zusammenfassung erscheint. Dostojewski schrieb sie mit leichter Feder, augenzwinkernd und amüsant, trotz des nicht vorhandenen Happy-Ends. Die Charaktere erscheinen wie überzogene Karikaturen, die prägnanten Dialoge entfachen reine Lesefreude. Dem Schriftsteller gelingt es, einen schwerlastigen Stoff ganz ohne lastende Schwere zu verarbeiten, und das ist wahrlich ein echtes Meisterstück! Der Leser erlebt allerdings auch die Verzweiflung des Hauptcharakters hautnah mit und würde ihn zum Schluss am liebsten unsanft wachrütteln. Leider funktioniert das nicht, und der bittere Geschmack des Verlustes bleibt am Ende doch zurück.
Fazit
Auch Dostojewski selbst soll in jenen Jahren eine unerfüllte Liebe erlitten haben, neben seinem unbezwingbaren Hang, sich immer wieder in die Höhle des Löwen zu begeben und das Schicksal herauszufordern. Die Authentizität dieses Romans stammt also nicht von ungefähr, ganz im Gegenteil: Der Autor gießt seine eigenen Emotionen wie einen lebendigen Strom in das Werk hinein und erzeugt dadurch kräftige Wellen, schwindelerregende Turbulenzen und mitreißende Effekte, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite binden. Rasant reiht sich ein Ereignis an das nächste Event, langatmige Beschreibungen oder Erklärungen entfallen: Das verleiht enormen Schwung! Manch komische Situation erweist sich bald schon als grotesk verzerrt, darum entschlüpft dem Leser sicher an der einen oder anderen Stelle ein Lacher. Insgesamt handelt es sich um einen würdigen Nachfolger des Erfolgsromans „Schuld und Sühne“, der 1866 erschien und ebenfalls zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur zählt. Auch das 1873 herausgekommene „Die Dämonen“ ließe sich in diesem Zusammenhang empfehlen, denn nicht wenige Kritiker halten dieses Werk für Dostojewskis besten Roman.
„Der Spieler“ von Dostojewski eignet sich ausschließlich für erwachsene Leser, die sich nicht davor scheuen, anspruchsvolle historische Werke in die Hand zu nehmen. Wer sich traut, wird aber sicher nicht enttäuscht werden.