Rezension von Silvia
Ein weit gereister, aus dem Ausland nach Istanbul zurückgekehrter Journalist vergewissert sich als Ich-Erzähler angesichts des nahenden Todes seiner Lebensgeschichte, beginnend mit der Kindheit in den 50-iger Jahren bis in seine unmittelbare Gegenwart.
Zu diesem Zweck vertraut er seine Erinnerungen, mit dem Leser munter plaudernd, einem altmodischen Tonbandgerät an. Das ist der Rahmen, in dem sich die Handlung des autobiografischen Romans des türkischen Schriftstellers Nedim Gürsel bewegt. 2017 hat der DuMont-Verlag das Buch, das in Istanbul im türkischen Original erschienen ist, in einer sprachlich wunderschönen Übersetzung von Barbara Yurtdas veröffentlicht.
Liebhaber historischer Milieuschilderungen und deftiger Anekdoten werden den Roman gerne lesen. So entsteht u.a. ein anschauliches Gemälde vom Leben eines mutterlosen Offizierssohnes inmitten des Kasernenlebens in der anatolischen Provinz, zwischen Exerzierplatz, alkoholseliger Kneipe und Soldatenstuben, in denen mangels Alternativen Hunde penetriert werden. Auch Neugierige, die z.B. gerne einmal einen Blick hinter das „ stets verschlossene Festtagstor“ des Galatasaray-Liceums in Istanbul werfen und den derben Schulalltag des Elite-Gymnasiums der 50-iger Jahre kennen lernen wollen, nimmt der Protagonist bereitwillig an die Hand.
Das geistige Band zwischen den Schauplätzen ist stets der säkulare Nationalismus des Republikgründers Kemal Atatürk. So kehrt der Protagonist am Ende seines Lebens zwar in ein von „streng verhüllte(n) Frauen“ mehr und mehr dominiertes Istanbul zurück. Ähnlich wie in den „Erinnerungen an Istanbul“des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk feiert Gürsel jedoch das säkulare, westlich orientierte Istanbul, das „nie mehr wiederkehrt“.
Vor diesem Hintergrund werden anhand eines Einzelschicksals zum einen universelle Motive abgehandelt, was die Fans zeitloser Klassiker freuen wird. Zum anderen übt der Roman immer wieder direkt und indirekt Kritik an der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation in der Türkei, so dass auch Leser, die eher zeitwirksame Literatur bevorzugen, Gefallen an dem Buch finden werden.
„Erotik ist ein zentrales Thema in fast allen meinen Büchern, insbesondere in diesem“, bekennt Nedim Gürsel 2016 in einem Interview des WDR. So erinnert sich der alternde Ich-Erzähler des Romans an erste sexuelle Erfahrungen auf dem Französischen Galatasaray-Gymnasium, an seine verbotene Liebe zur Mutter eines Klassenkameraden oder an Bordellbesuche. Mit anschaulichen Metaphern malt er den für Pubertierende mit Höllenstrafen belegten Akt der Selbstbefriedigung aus und schildert Masturbierwettbewerbe. Neben der Kritik an der strengen Sexualmoral der 60-iger Jahre in der Türkei ist die indirekte Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation im Heimatland des Autors unüberhörbar und der reaktionäre, religiös geprägte neue Konservativismus der zeitgenössischen Türkei wird als „negative Entwicklung“ überdeutlich.
Im Zentrum des Buches steht jedoch die Abrechnung mit den Ausprägungen autoritärer Strukturen. Zunächst wird die Familie als Keimzelle des Autoritarismus vorgeführt. So thematisiert der Ich-Erzähler schon zu Beginn des Romans den Selbstmord seiner jungen Mutter. Diese erschießt sich mit der Pistole ihres Ehemannes, als der Protagonist 6 Jahre alt ist, weil sie das lieblose Regiment ihres Mannes und die Demütigungen der herrschsüchtigen Schwiegermutter nicht mehr aushält. Auch die Beziehung von Vater und Sohn ist lediglich geprägt von „Befehl(en) innerhalb der Befehlskette“.
Dann übt der Autor Kritik daran, dass in der Türkei wiederholt das Militär in Form von Staatsstreichen Politik gemacht hat. Eine „Armee, die sich in Politik einmischt, ist eine schlechte Sache“betont Gürsel im Interview, der selbst aufgrund von wiederholten Übergriffen des türkischen Militärs auf die Verfassung der Republik ins Exil nach Frankreich gegangen ist. Der Roman schildert in Schlaglichtern die Ereignisse um den. Putsch vom Mai 1960 , durch den der Vater des Protagonisten, der titelgebende Hauptmann, in den Augen des Sohnes zum „Henker Hasan“ wird, da er als führender Putschist mit verantwortlich für Hinrichtungen ist, die auf grotesken Gerichtsverfahren basieren. Aktuelle Bezüge zum vereitelten Militärputsch vom Juli 2016 liegen auf der Hand, den der gegenwärtige Minsterpräsident Recep Tayyip Erdogan laut Gürsel der Neuen Züricher Zeitung gegenüber dazu benutzt, die Verfassung der türkischen Politik weiter auszuhöhlen, statt sie zu behüten, wie es seine eigentliche Aufgabe sei.
Dieser Ministerpräsident, „mit riesigem Körper, aber kurz von Verstand“, wird auch im vorliegenden Roman immer wieder vom Ich -Erzähler kritisiert und verspottet: Der Hauptfigur fällt gleichzeitig zu seiner Erinnerung an einen sadistischen, prügelnden Kommilitonen ein: „Und ich kann nichts dafür, aber wenn Tag für Tag auf den Fernsehbildschirmen der Namensvetter des Lernsaalaufsehers (Recep) auftaucht, dann muss ich mich schwer beherrschen, um ihm nicht ebenfalls eine Ohrfeige zu verpassen. Denn auch er spielt sich auf als Abi, als großer Bruder, um alles zu verbieten, und wenn es so weitergeht, dann verbietet er uns eines Tages noch, aufs Klo zu gehen.“ Zur gegenwärtigen politischen Lage bemerkt der Protagonist:“Wir sind jetzt (…) in einer Epoche (angekommen), in der kritisches Denken schikaniert, ja verboten wird.“
Freiheit von autoritären Strukturen findet der Erzähler in der Erotik und in der Poesie. So nimmt der Roman immer wieder seine Zuflucht in Gedichte, vom Marschlied der Jugend gegen den Despoten Menderes bis hin zu den Gedichten Mevlanas, des Sufimeisters der Derwische. Allgemeine Rettung erwächst allerdings auch hieraus nicht. „Meiner Meinung nach gibt die Literatur keine Antworten. Aber sie stellt Fragen“, betont Gürsel, die großen Fragen nach den Bedingungen von Freiheit und Unterdrückung, ohne jedoch im Roman eine alltagstaugliche Antwort zu finden: „Ich (…) wäre bereit, auf meinen Mittags-Raki zu verzichten, damit (der Ministerpräsident) so schnell wie möglich verschwände. Aber er tritt ja nicht ab, drum: Prost!“