Rezension von Mona
„Sie stehen mitten auf der Straße. Irgendwo wird ein Hammer geschwungen. Der Krieg, denkt Etienne vage, ist wie ein Markt, auf dem Leben wie eine Ware gehandelt wird, wie Schokolade, Patronen, Fallschirmseide. Hat er all die Nummern gegen Marie-Laures Leben eingetauscht?“ (S. 416)
„Alles Licht das wir nicht sehen“ ist ein mit dem Pulitzer-Preis 2015 ausgezeichneter historischer Roman rund um zwei jugendliche Protagonisten während des zweiten Weltkrieges. Der amerikanische Autor Anthony Doerr hat bislang einen Roman, Erzählungen und eine Kurzgeschichten-sammlung veröffentlicht, doch mit seinem aktuellen Werk gelang ihm auch der internationale Durchbruch.
Worum geht es? 1944. Dies ist die Geschichte zweier unter-schiedlicher Jugendlicher, die den Schrecken des Krieges auf ganz eigene Weise erfahren. Marie-Laure ist seit ihrer Erblindung komplett auf ihren Vater angewiesen, einem Angestellten des Naturkundemuseums in Paris. Dieser kümmert sich rührend um seine überdurchschnittlich intelligente Tochter, baut ihr kleine Modelle ihrer Umgebung, anhand dieser sie sich auch alleine in der Stadt zurechtfinden kann. Als Paris besetzt wird, fliehen sie gemeinsam ans Meer zu ihrem ihr unbekannten Großonkel und müssen lernen, sich dort mit der Situation zu arrangieren.
Gleichzeitig ist das aber auch die Geschichte von Werner, einem Waisenjungen, der mit seiner Schwester in einem Heim in Deutschland lebt. Recht früh kristallisiert sich bei ihm ein unabschätzbares Verständnis für technische Belange heraus. Er repariert Radios und wird schon bald für die Eliteschule, der sogenannten NAPOLA, empfohlen. Dort muss er ziemlich schnell feststellen, dass der Einzelne kaum etwas wert ist und jede Schwäche ihn als unwürdig deklarieren würde.
Marie-Laure und Werner sind beidesamt Charaktere, die im Gedächtnis bleiben. Sie sind auf ihre ganz eigene Art unschuldig und unbeholfen und sind deshalb nicht unmittelbare Bestandteile des nationalsozialistischen Systems. Werner ist zwar Mitglied der „Elite des Führers“, hinterfragt aber sehr viel und fügt sich nicht (vollständig) den Machenschaften.
Er ist jemand, der den Verlockungen der Napola nachgeben musste, sich aber nur wenig in dieses System einfügen kann. Hätte er nicht diese technische Hochbegabung, die die Obersten gut für sich zu nutzen wissen, so wäre er vermutlich überhaupt nicht aufgefallen und hätte den Krieg passiv erlebt. Er wirkt aktiv am Kriegsgeschehen mit, tut dieses aber weder aus Überzeugung noch aus vollem Herzen. Marie-Laure hingegen ist die Gegenseite. Sie ist eine wirklich Unschuldige und aufgrund ihrer Erblindung ein noch viel wehrloseres Opfer, als es die meisten waren. Der Autor zeigt hier zwei Sichtweisen, die sich ähnlich sind, und trotzdem grundverschieden.
Marie-Laure und ihren Vater verbindet eine Beziehung, die sich vermutlich jedes Kind wünscht. Nicht aufgesetzt und doch so innig und vertraut, dass sie einander die wichtigsten Menschen auf der Welt sind. Im Laufe der Geschichte gerät diese Beziehung durch äußere Umstände ins Wanken, was mir schier das Herz zerbrach.
Der Autor hat nämlich so imposante und lebensnahe Charaktere erschaffen, dass sie immer ganz nah bei mir waren. Werner wuchs mir nicht weniger ans Herz, mit ihm habe ich mich ebenso verbunden gefühlt. Ich könnte auch nicht sagen, welche Sichtweise mir mehr bedeutet hat. Die Nebencharaktere, wie zum Beispiel Marie-Laures Großonkel, waren auch wunderbar ausgearbeitet. Ich hatte sehr oft das Gefühl, der Autor erzählt von geliebten Menschen, nicht von fiktiven Charakteren.
Das Sahnehäubchen zu dieser durchweg spannenden, interessanten, tief bewegenden Handlung und diesen außergewöhnlich tollen Charakteren, ist Doerrs Schreibstil, der auf seine ganz eigene Art poetisch ist. Er spielt mit Worten, mit Szenarien und erzählt sehr detailverliebt, ohne dabei ausufernd zu werden. Für mich war jede einzelne Seite dieses durchweg meisterhaften Buches ein Hochgenuss!
„Sie warteten auf den Tod. Für Männer wie sie war die Zeit ein Übermaß, ein Fass, dem sie beim Leerlaufen zusahen. Wobei sie wirklich, denkt er, eine schimmernde Pfütze ist, die du in den Händen mit dir trägst. All deine Kraft solltest du dafür aufwenden, sie zu schützen. Dafür kämpfen. Dich so sehr bemühen, keinen Tropfen zu verschütten.“ (S. 469)
Fazit
Mit „Alles Licht das wir nicht sehen“ hat Anthony Doerr ein Meistwerk erschaffen, in das sich vermutlich noch sehr viele Menschen verlieben werden. Bitterschön, tieftraurig und unendlich rührend!