„Bestenlisten (…) haben immer die Tendenz, das Gefällige, auf das sich alle einigen können, gegenüber dem Radikalen, dem Sperrigen, dem Avantgardistischen zu bevorzugen“
Dr. Thomas Rothschild gehört zu den renommiertesten Literaturwissenschaftlern im deutschsprachigen Raum. Der Stuttgarter mit britisch-österreichischen Wurzeln war Dozent an der Universität Stuttgart, zweifacher Juror des renommierten Bachmann-Preises und Preisträger des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik und des Bruno Kreisky-Preises. Der Autor und Journalist ist auch Juror der ORF-Bestenliste.
FaBü: Herr Rothschild, Ende der 70er hat die ZEIT ein ambitioniertes Projekt durchgeführt: die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. Ziel war es, die wichtigsten Bücher der Weltliteratur zu benennen. Wenn man sich Leserforen dazu im Internet ansieht, kritisieren viele Menschen solche Listen als Bevormundung. Dazu passt die, wenn auch gut gemeinte Begründung des damaligen Initiators Fritz Raddatz, die „jungen Leute müssten erst mal wieder das Lesen lernen.“ Lassen Sie sich von solchen Listen beeinflussen?
Thomas Rothschild: Nein, aber ich gehöre auch nicht zu den „jungen Leuten“, von denen Raddatz spricht. Ich kann lesen, musste es können, weil ich daraus einen Beruf gemacht habe.
FaBü: Obwohl dieser Kanon sehr erfolgreich war und auch viel Lob erfahren hat, fällt doch auch der westliche Fokus auf. Bevölkerungsreiche Länder wie Indien und China fehlen. Das europäische Ausland, auch Russland, ist sehr gut vertreten. Woher kommt dieser „blinde Fleck“?
Thomas Rothschild: Er verdankt sich wohl unserem europa- und nordamerikazentrischen Bewusstsein. Zu dessen Verteidigung könnte man ins Feld führen, dass die kulturellen Erfahrungen, die uns in Mitteleuropa in unserer Sozialisation prägen, den Zugang zu Literaturen vereinfachen, die ihrerseits diese Erfahrungen zur Grundlage haben. Die Lektüre von Büchern aus „exotischeren“ Ländern erfordert eine weiter gehende Beschäftigung mit deren Geschichte, literarischen Traditionen und Denkweisen. Die mag zwar wünschenswert, dürfte aber einer Minderheit innerhalb der Minderheit literarisch Interessierter vorbehalten sein. Hinzu kommt das Problem der Übersetzungen. Nicht für alle Sprachen gibt es (gute) literarische Übersetzer. Selbst europäische Literaturen wie die polnische, die finnische oder die ungarische waren bis vor kurzem auf einige wenige Spezialisten angewiesen, die sie ins Deutsche brachten, und manche asiatische Werke wurden nicht einmal aus dem Original, sondern aus dem Englischen übersetzt, was allenfalls als Notlösung gelten kann.
FaBü: Horst Lauinger, der Manesse-Chef, meinte im Interview mit uns: „Wer weiß, vielleicht denkt sich in 20 Jahren niemand mehr etwas dabei, wenn deutsche Bestsellerlisten von „Orientalen“ dominiert werden.“ Teilen Sie den Optimismus?
Thomas Rothschild: Dass sich niemand etwas dabei denkt, falls das eintritt, wäre erfreulich, und da das Faktische in der Regel als Norm gilt, wird es wohl so sein. Ich halte es aber für eher unwahrscheinlich, dass die Bestsellerlisten in absehbarer Zeit von „Orientalen“ dominiert werden.
FaBü: Wenn man sich im Vergleich dazu andere Weltliteraturbestenlisten ansieht, etwa die der BBC oder von Le Monde, dann wurde da ein anderer Ansatz gewählt – hunderttausende Leser wurden nach ihren Präferenzen gefragt. Internationaler wurden die Kanones dadurch aber auch nicht. Kann man solche Entscheidungen sozusagen demokratisieren, oder sollte man das den Experten überlassen?
Thomas Rothschild: Man kann solche Entscheidungen nicht demokratisieren. Deshalb sind Bestenlisten auch dann allenfalls eine Spielerei, wenn sie von Experten stammen. Sie haben immer die Tendenz, das Gefällige, auf das sich alle einigen können, gegenüber dem Radikalen, dem Sperrigen, dem Avantgardistischen zu bevorzugen. Da stets jene Kandidaten die größte Übereinstimmung erreichen, die von den meisten Juroren gekannt und akzeptiert werden, ist das Ergebnis notwendig der kleinste gemeinsame Nenner.
FaBü: Beim BBC-Ranking hat es nur ein deutscher Autor unter die „1oo wichtigsten Bücher“ geschafft. Patrick Süskind. Der ZEIT-Kanon umfasste umgekehrt eine ganze Reihe englischer Bücher, wie erklären Sie sich das? Haben wir schon durch die im Vergleich weniger verbreitete deutsche Sprache einen Startnachteil bei der Akzeptenz unserer Schriftsteller?
Thomas Rothschild: Ich glaube nicht, dass es an der Sprache liegt. Den britischen und französischen Juroren lagen ja weit mehr deutschsprachige Autoren in englischer oder französischer Übersetzung vor. Eher dürfte es an der globalen Amerikanisierung liegen – am auffälligsten beim Film – und im Gefolge an der Vorherrschaft einer narrativen Literatur, die im englischsprachigen Raum fester als im deutschsprachigen verankert ist und für die Philip Roth schon die ultima ratio experimentellen Erzählens darstellt. Auch in Deutschland bevorzugen ja maßgebliche Kritiker diese Art von Literatur gegenüber Büchern, die Anstrengung abverlangen. In Amerika nennt man das „Eurotrash“, bei uns wird es mit dem verräterischen Attribut „kopflastig“ denunziert.
FaBü: Zugegeben – dieses Attribut haben wir auch schon in Zusammenhang mit Platons Apologie und Homers Odyssee verwendet. Herr Rothschild, wir bedanken uns herzlich für das Gespräch.