Rezension von Ramon
Sven Regeners erste drei Romane Herr Lehmann, Neue Vahr Süd und Der kleine Bruder werden als Lehmann Trilogie bezeichnet, weil Frank Lehmann darin die Hauptfigur ist. Hauptfigur des vierten Romans Magical Mystery ist der Künstler Karl Schmidt, eine Nebenfigur aus der Lehmann Trilogie. Der nun vorliegende fünfte Roman Regeners hat keine klare Hauptfigur mehr, versammelt zahlreiche Figuren aus den ersten vier Romanen und ist multiperspektivisch erzählt.
An einem Novembertag im Jahr 1980 zieht Frank Lehmann mit Karl Schmidt, H.R. Ledigt und Chrissie in eine Wohngemeinschaft über dem Café Einfall. Maßgeblich in diesem Café, in der Wohngemeinschaft und in der benachbarten sogenannten ArschArt Galerie, einem nur scheinbar besetzten Haus, vollzieht sich die Handlung von Wiener Straße.
Wobei Handlung vielleicht etwas zu viel gesagt ist. Geschildert werden vielmehr kleine Ereignisse, die sich nur lose zu einem Geschehen verdichten. Der schwäbische Barbesitzer Erwin Kächele muss seine Freundin zur Schwangerschaftsberatung begleiten. Die achtzehnjährige Chrissie erkämpft sich mit viel Geschick einen ersten Job als Kellnerin und Kuchenbäckerin. Frank Lehmann, der in Herr Lehmann zum Wirt aufgestiegen sein wird, putzt morgens die Bar und verscheucht Leute, die schon hereinkommen wollen, obwohl noch geschlossen ist. Die Künstler aus der ArschArt-Galerie wollen sich an einer vom Bezirk subventionierten Ausstellung beteiligen.
Stärken und Schwächen
Regeners Stärke sind die lebendigen, authentischen Dialoge, in die immer die sprachlichen Eigenheiten der Figuren einfliessen. Eine solch ungekünstelte Verwendung von Sozio- und Dialekten glückt nicht vielen Autoren. Der Auftritt von Chrissies kleinbürgerlicher Mutter Kerstin ist in dieser Hinsicht etwa hervorragend gelungen und die Auseinandersetzungen zwischen Erwin und seiner schwangeren Freundin sind Musterbeispiele für pointierte Dialoge. Auch kann Regener genau beobachten und sich in seine Figuren einfühlen.
Manchmal kippt seine Darstellung aber auch ins Klamauk- und Klamottenhafte, als würde man sich plötzlich in einer Sitcom mit eingespielten Lachern befinden. Die durchaus realistische, nur leicht zugespitzte Darstellung der Figuren im Café Einfall und in der Wohngemeinschaft bricht sich etwa mit der groben Überzeichnung der Figuren aus der ArschArt Galerie, in der sich devote Künstler um einen despotischen Anführer namens P. Immel versammeln.
Vergleich mit Herr Lehmann und Fazit
Aus mehreren Gründen halte ich den Bestseller von 2001, Herr Lehmann, immer noch für Sven Regeners stärksten Roman. Erstens ist in diesem Roman die Balance zwischen humorvoller Einfühlung und Parodie besser gelungen, ich hatte nie den Eindruck, der Autor mache sich über seine Figuren lustig.
Zweitens ist der Frank Lehmann in Herr Lehmann eine Figur mit einem echten Konflikt. Von einem solchen ist der jüngere Frank Lehmann in diesem Roman noch viele Jahre entfernt. Drittens verhandelt Herr Lehmann mit dem Mauerfall auf lakonische Art auch ein Ereignis von geschichtlicher Bedeutung und hat aufgrund der originären Art, wie er das macht, eine ganz andere Relevanz. Es war der erste Roman, der die Ignoranz des alten West-Berlin gegenüber den Geschehnissen jenseits der Mauer so pointiert auf den Punkt gebracht hat.
In Wiener Straße ist alles eine Nummer kleiner. Es ist eine weitere Geschichte über das alte Kreuzberg, lange vor der Gentrifizierung des Stadtteils, alles läuft träge vor sich hin, die Mieten sind billig, jeder findet irgendeinen Job und man profitiert von den Berlin-Subventionen der Vorwendezeit. Auch wenn dieser Blick aufs Kleine beabsichtigt ist und auch wenn mit dem Thema Kunst bzw. wann ist man ein Künstler dann doch noch so eine Art roter Faden durch den Roman läuft, wird mir doch etwas zu viel Alltägliches aus altbekannter Sicht erzählt, als dass mich der Roman wirklich gefesselt hätte.
Chronologie
Die fünf Romane um Frank Lehmann und sein Umfeld sind nicht in der Reihenfolge ihres Erscheinens erzählt. Hier zur Entwirrung eine Übersicht über die erzählte Zeit:
1. Neue Vahr Süd (2004) – Juni bis November 1980
2. Der kleine Bruder (2008) – November 1980, kurz danach
3. Wiener Straße (2017) – November 1980, kurz danach
4. Herr Lehmann (2001) – Ende 1980er
5. Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt (2013) – 1990er