Rezension von Ramon
Teil 1: Eine Idee erscheint
Während seine letzten Romane aus der dritten Person erzählt waren, kehrt Haruki Murakami mit Die Ermordung des Commendatore wieder zum namenlosen männlichen Ich-Erzähler in den Dreißigern zurück, wie man ihn aus seinen frühen Romanen kennt.
Der Erzähler in diesem Roman hat Kunst studiert und zunächst abstrakte Bilder gemalt. Aus wirtschaftlichen Gründen wechselte er dann zur auftragsmäßigen Porträtmalerei und brachte es zu einem gewissen Erfolg. Das künstlerische Malen hat er eigentlich längst aufgegeben. Er ist ein typischer Murakami-Held, jemand, der sich selbst tendenziell unterschätzt und für einen Durchschnittsmenschen ohne eigene Ambitionen hält. Doch nachdem seine Frau ihn verlassen hat gibt es einen Bruch in seinem Leben. Er zieht sich in ein einsames Haus in den Bergen zurück, das Haus eines berühmten Malers, der mittlerweile in einem Pflegeheim lebt. In dieser Abgeschiedenheit will der Erzähler zu sich selbst kommen und nur für sich selbst malen.
Als sein Agent ihm dann allerdings einen Auftrag mit einer außergewöhnlich großen Summe anbietet, nimmt er an und entschließt sich, noch ein letztes Portrait anzufertigen. Es stellt sich heraus, dass der Auftraggeber ein Mann ist, der in einer Villa auf der gegenüberliegenden Seite des Berges wohnt. Wer ist dieser Mann und warum hat er sich ausgerechnet ihn ausgesucht, warum ist er bereit, eine so hohe Summe zu zahlen?
Als der Mann ihm Portrait sitzt, scheitert der Maler an seiner Aufgabe, weil er das Wesen des Mannes nicht erfassen kann. Er findet die richtigen Farben nicht und vermag dem Bild keine Tiefe zu geben.
Im weiteren Verlauf verschwimmen die Grenzen zwischen Realem und Imaginärem und der Erzähler fasst den Verdacht, dass „an den Nähten der Welt ein feiner Riss entstanden sein musste“. Wenn man normalerweise im übertragenen Sinn davon spricht, dass eine Idee Gestalt annimmt, so passiert das in diesem Roman ganz buchstäblich. Dieses Ereignis führt nicht nur zu philosophischen Gesprächen zwischen Erzähler und Idee, sondern auch zu einer ganzen Reihe phantastischer und nicht zuletzt sehr komischer Folgesituationen, bis man sich am Ende dieses ersten Bandes unversehens an einem sehr realen und schrecklichen historischen Ort wiederfindet.
Wie schon u.a. in Mister Aufziehvogel flechtet Murakami viele reale historische Ereignisse in seine Fiktion ein. Man erfährt nicht nur etwas über japanische Geschichte und die Nihonga-Malerei, sondern auch über Wien 1938, dem Jahr des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland. In diesem Jahr studierte der Maler, in dessen Haus der Erzähler lebt, in Österreich Kunst.
Dessen Bild mit dem Titel Die Ermordung des Commendatore findet der Erzähler auf dem Dachboden seines Hauses. Das Bild wird so mitreissend und lebendig beschrieben, dass es sehr plastisch vor dem inneren Auge des Lesers entsteht. Wie der Erzähler will man seiner verborgenen Bedeutung auf die Spur kommen.
Noch stärker als in früheren Werken verlangsamt Murakami in diesem Roman die Zeit. Sein Protagonist hat sich ein Ziel gesetzt: „Ich mußte die Zeit wieder auf meine Seite bringen.“ Zu diesem Zweck entledigt er sich vollständig der fremdbestimmten Zeit und kommt in dem einsamen Haus auf dem Berg immer mehr zu sich. Die Handlung kommt dabei streckenweise fast völlig zum Stillstand und weicht einer Beschreibung der Reflexionen und alltäglichen Routinen des Erzählers. Erwähnt werden sollten auch noch die intertextuellen Bezüge. Ein kurzes Kapitel des Romans ist einem gänzlich anderen Buch entnommen und fügt sich auf wundersame Weise in das Gesamtbild. Am Ende dieses ersten Teils ist noch offen, wie sich die vielen Rätsel des Romans miteinander verweben werden.
Bisher handelt es sich um Murakamis faszinierendste Geschichte seit 1Q84.
Daten
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore
Bestseller in verschiedenen Ländern, unter anderem Deutschland
Teil 1: Eine Idee erscheint
Dumont Buchverlag
477 Seiten
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Erschienen 2018