Rezension von M. Gröls
„Der Klang der Zeit“ ist eine Familiengeschichte. Man würde nicht übertreiben, spräche man von einem Familienepos. An einem Sonntag im Jahre 1939 gibt die afroamerikanische Sängerin Marian Anderson ein Freiluftkonzert vor Lincolns Denkmal in Washington, nachdem sie zuvor wegen ihrer Hautfarbe in den offiziellen Konzertsälen keinen Einlass gefunden hat.
Hier lernen sich zwei der Protagonisten kennen und es ist dieser Urmoment, auf den das Buch immer wieder zurückkommt: Die Afroamerikanerin Delia Daley, selbst ein Gesangstalent trifft auf den aus Nazideutschland emigrierten David Strom. Dieser ist vieles, was für Delias Familie ungewöhnlich ist: Er ist ein Physikprofessor an der Columbia, er ist deutlich älter als Delia, er ist ein Jude, doch vor allem ist er eines: Weiß. Was die beiden teilen, abgesehen von der Erfahrung gesellschaftlich ausgegrenzt zu sein, ist vor allem anderen die Liebe zur Musik. Als Wissenschaftler gehört David zu den Heerscharen der Forscher, die am Manhattan-Projekt mitgewirkt haben – am Bau der Atombombe.
Gegen den Willen des dominanten Vaters, eines prinzipienstarken Arztes, passiert nun folgendes: Das Paar heiratet und bekommt sogar Kinder. Und diese drei – zwei Jungs und ein Mädchen – sind die eigentlichen Hauptprotagonisten des Buches. Sie sehen sich in eine unmögliche Lage gebracht, unter der sie ein Leben lang leiden werden: Sie sind als Kinder eines „gemischtrassigen“ Paares (Was für ein Wortmonster…) zu weiß, um von den Schwarzen ohne weiteres anerkannt zu werden und für die Weißen zu schwarz, um als Weiße durchgehen zu können.
Das Leben der beiden Söhne wird sich um die Musik drehen. Jonah, der Erstgeborene, hat die wunderbarste Stimme, die je in einem Roman beschrieben wurde. Sein jüngerer Bruder Joey folgt ihm auf dem Klavier überall hin. Die Brüder hängen aneinander und sind doch gegensätzlich. Hier der narzistische und der Welt entrückte Jonah, dort der pragmatische, selbtreflektierte und bescheidene Joey. Schießlich Ruth, die jüngste, die jedoch nur selten im Buch eine Rolle spielt und stets eine unheimliche Wut mit sich herumträgt. Sie ist politisch radikal und engagiert. Für einige Zeit finden die Brüder eine Heimat im europäischen Ausland, wo man sich immerhin weit weniger um die Hautfarbe schert. Um endlich selbst Glück zu finden, muss Joey schließlich radikale Schritte unternehmen: Er muss sich sowohl aus der Umklammerung der Musik, als auch aus der seines Bruders befreien…
Rezension
Das Buch kommt aus der Perspektive des Erzählers, Joey, daher. Für diesen geht die Geschichte gut aus, doch für die anderen Protagonisten laufen die Dinge….sagen wir: Realistisch. Zur Hollywoodverfilmung taugt „Der Klang der Zeit“ nicht, mehr schon für das europäische Kino. Doch können die Europäer nicht die Geschichte erzählen, die amerikanischer nicht sein könnte. Powers bisher gelungenstes Werk ist eine hochausdifferenzierte Beschreibung des Rassismus in den USA in all seinen Formen. Es ist aber auch ein großer Musikroman. Wer dieses Buch gelesen hat und in sich keine Liebe zur Musik findet, der braucht auch nicht weiter zu suchen. Richard Powers hat sich sichtlich fachkundig gemacht: Virtuos, mal verspielt und mal mit heiligem Ernst, beschreibt er den Reichtum und die Schönheit dieser Kunstform.
Ulrich Greiner schreibt in der „ZEIT“, das Buch sei letztlich langweilig. Abgesehen davon, dass mir seit Jahren zuverlässig die Bücher am besten gefallen, die ihm mißfallen: De gustibus non est disputandum. Außer wenn man’s doch tut. Die Charaktere in Powers „Klang der Zeit“ fesseln. Man möchte wissen wie sich die Dinge für die unterschiedlichen Generationen der Protagonisten entwickeln und man wünscht sich Frieden für dieses großartige Land, das wie kein anderes die Freiheit hochhält, und sie zugleich ganzen Volksgruppen vorenthielt.
Allerdings: Richard Powers ist nicht Dan Browm. Man muss seinen Figuren Zeit geben, sich zu entfalten. Sein Einstieg ist umständlich, sogar technisch. Nach der 100. Seite erst sind uns seine komplexen Charaktere ans Herz gewachsen. Menschen, die komplex sind, widersprüchlich, unausstehlich manchmal – also so, wie wir es im günstigsten Falle selbst sind.
Infos:
- „Der Klang der Zeit“ ist der achte Roman von Richard Powers
- Powers ist bekannt für seine umfassende, saubere Recherche. In „Echo der Erinnerungen“ bringt er sich auf den neuesten Stand der Hirnforschung, für „Klang der Zeit“ wird er zum Musikexperten
- Originaltitel: The Time Of Our Singing
- Website des Bestseller-Autors Richard Powers