Interview mit Thorsten Nesch
Thorsten Nesch, geb. 1968 in Solingen. Seit 1998 in Kanada und BRD. Hauptberuflich Autor seit 2008. Nationale und Internationale Förderungen, Stipendien und Preise. Über 1000 Auftritte. Romane veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Satyr Verlag und Mixtvision Verlag. „Ein erzählerischer Glücksfall in der aktuellen deutschsprachigen Literatur“, aus der Laudatio der Jury zum Hans-im-Glück-Preis 2012
Fabelhafte Bücher: Jedes Jahr buhlen im deutschsprachigen Raum weit mehr als 100.000 Bücher in Neuauflage um die Aufmerksamkeit der Leser. Die „Konkurrenz“ ist also gewaltig. Denken Sie über sowas nach, wenn Sie ein neues Buch in Angriff nehmen?
Was? Wie viele? Das ist ja … wozu … also, wenn das so ist, dann brauche ich ja eigentlich gar keine Romane schreiben. Dann lasse ich es sein und … – Nein, im Ernst, darüber denke ich nicht nach. Habe ich noch nie, auch nicht, als ich noch nicht verlegt wurde. Ich schreibe immer die beste Idee und recherchiere dazu, ob es so etwas in der Art schon gibt. Wenn nicht, dann lege ich los.
Fabelhafte Bücher: Bestsellerlisten wie beispielsweise die Spiegel-Bestseller-Liste waren immer schon heiß umstritten und doch orientieren sich nun mal viele Menschen an den Lesegewohnheiten anderer Leser. Wie stehen Sie zu solchen Bücherrankings?
Diese Listen dienen als Filter. Jeder muss seinen besten Filter finden. Als Leser bin ich dankbar, wenn ich einen Filter finde, der mir die Suche nach dem richtigen Buch erleichtert – gerade in der genannten Flut von Veröffentlichungen und zumal ich in zwei Sprachen (Deutsch und Englisch) unterwegs bin. Allerdings kaufe und lese ich nicht blindlings jedes empfohlene Buch, sondern teste immer die ersten ein oder zwei Seiten, wozu ich auch stets denjenigen rate, die sich für meine Bücher interessieren, denn die Erzählstimme variiert bei mir so stark wie die Protagonisten.
Fabelhafte Bücher: Schreibblockaden, Selbstzweifel oder einfach zu viel zu tun: Jeder Autor hat mal Durchhänger. Was ist Ihr Geheimrezept?
Die einzige von mir wahrgenommene Schreibblockade und durch Durchhänger waren die Jobs, die ich arbeiten musste, um mir über 15 Jahre das Schreiben zu ermöglichen. Sie haben mich vom Wesentlichen abgehalten, ich weiß aber auch, dass ich in diesen unterschiedlichen Berufen vieles über Menschen gelernt habe, was mir in der Literatur, wie ich sie schreibe, zugute kommt. Seit 2008 können meine Familie und ich von meinen Geschichten leben. Das ist großes Glück. Zweifel hatte ich nie, wohl aber 1998 akzeptiert, dass ich womöglich niemals verlegt werden würde. Zu Schreiben hatte ich dennoch nicht aufgehört. Das geht gar nicht.
Fabelhafte Bücher: Ob Indieautor oder Verlagsautor – längst wird erwartet, dass Autoren auf ihre Leser zugehen. Lesungen reichen nicht mehr, der Autor sollte möglichst auch im Internet präsent sein. Wie viel Zeit setzen Sie ungefähr für diese Aktivitäten rund ums Buch ein?
Ich habe eine uptodate Homepage und bin auf Deutsch bei Facebook unterwegs, auf Englisch bei Twitter. Warum? Zum einen halte ich Kontakt mit Freunden, Bekannten und KollegInnen, zum anderen gebe ich so einen kleinen Einblick in mein Leben, mein Denken, und das habe ich mir als Leser von meinen Lieblingsautoren gewünscht, doch das war damals nicht möglich. Wie viel Zeit ich darauf verwende, hängt stark vom Tagesverlauf ab, wie ich arbeite, was im Leben passiert. Von 5 Minuten bis zu einer halben Stunde kann das sein. Ich verfolge damit keine Vermarktung, ich berichte wenn etwas passiert, wo ich denke, das könnte jemanden interessieren und kommentiere gerne ungefragt.
Fabelhafte Bücher: Wenn Neulinge Sie nach einem Tipp fragen würden: Auf welches Marketinginstrument setzen Sie in erster Linie?
Ein Verlag hat immer noch die größten Möglichkeiten. Veröffentlicht man selbst würde ich ganz genau recherchieren, welche Blogs sich für mein Genre interessieren und diese gezielt anschreiben. Und dann sollte man, wie die bekannten Größen der Selbstveröffentlichungsbranche, mehr Zeit und Energie auf die Vermarktung verwenden als auf sein Schreiben … wobei dann letzteres … möchte ich mal behaupten … dann darunter leidet. Man ist dann eher eine Content-providender PR-Android – kein Geschichtenerzähler.
Fabelhafte Bücher: Von welchen Schriftstellern sehen Sie sich in Ihrem eigenen Werk beeinflusst? Wer inspiriert Sie?
Über 15 Jahre habe ich ordnerweise Verlagsabsagen gehordet. Manchmal wurden auch Gründe genannt: mein Stil läge nicht in der Tradition der deutschen Literatur, oder: er sei zu filmhaft. Wenn das wie in meinem Fall von unterschiedlichen Lektoren und Verlagen genannt wird, muss dies auch stimmen. Und ja, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mehr von der englischsprachigen Literatur beeinflusst bin, vor allem, weil diese nicht – wie weltweit nur im deutschsprachigen Bereich üblich – in “unterhaltende” und “ernste” aufgeteilt wird – also in dumm oder Vokabelporno. Ich strebe zumindest stets nach einer guten Geschichte, die ich dann so glaubwürdig wie möglich erzählen möchte.
Fabelhafte Bücher: Wieso werden von den großen Feuilletons, egal ob Spiegel, FAZ, ZEIT oder sonstigen Granden des Literaturbetriebs, immer nur die üblichen Verdächtigen rezensiert, die ohnehin jeder kennt? Wie könnte es gelingen, Newcomer stärker in den Vordergrund zu rücken?
Naja, “immer” würde ich auf meistens beschränken. Es gibt schon wunderschöne Ausnahmen, die in der Rezensionslandschaft schillern. In den anderen neun von zehn Fällen steht die Werbung, das Budget für ein Buch dahinter, bzw. die Verbindung des Verlages zur Zeitung. Oft findet man die halbseitige Werbung ein paar Seiten später oder in der nächsten Ausgabe. Das war aber schon immer so, zumindest solange ich Zeitung lese, und ist einfach ein weiterer Filter. Newcomer werden von Verlagen auch so platziert. Wenn ein Verlag viel Geld für ein Buch ausgibt, dann ist das Budget für die Werbung entsprechend hoch. Die „üblichen Verdächtigen“ bekommen die größten Vorschüsse, daher wird das meiste PR-Geld bei ihnen eingesetzt. Alles ein Zahlenspiel. Manchmal auch ein Newcomer. Manchmal geht es auf, manchmal nicht. Und manchmal haben Rezensenten auch Luft und besprechen einen Roman, der ihnen einfach am Herzen liegt.
Fabelhafte Bücher: Nach Ihren Erfahrungen – welche Anfängerfehler würden Sie im Nachhinein vermeiden – was können Sie Neulingen empfehlen, die sich mit dem Gedanken tragen, ein Buch zu schreiben?
Das wichtigste ist, sich ein Zeitfenster zu suchen. Durch meine zahlreichen Jobs waren die damals immer unterschiedlich: Tagsüber, nachts, nur 1 Stunde oder acht Wochen am Stück. Egal wann, ich habe die Zeit umarmt. Außerdem sollte man sich nicht unter Druck setzen, wie mit “ich schreibe jeden Tag x Wörter” – es kommt auf die Qualität der Wörter an. Ich sage jedem, der mich fragt, wenn du einen Fulltime-Job hast, dann schreibe eine gute Seite am Tag. Das sind im Jahr 200 gute Seiten (jaja, eigentlich 365, aber abzüglich den Zeiten wo man Urlaub hat, Liebeskummer, Grippe, schönes Wetter…). 200 gute Seiten können ein guter Roman sein. Das schaffen noch nicht mal alle hauptberuflichen Schriftsteller im Jahr.
Fabelhafte Bücher: Viele Schriftsteller tun sich beim Schreiben von Sex-Szenen ziemlich schwer. Gibt es Themen oder Situationen, bei deren Beschreibung Sie sich schwer tun?
Jeder Roman sollte schwere Stellen haben. Das sind Herausforderungen, die man als Autor suchen sollte. Es sind ja meistens auch Herausforderung für die Protagonisten. Ich sehe es also nicht so, dass ich mich schwer dabei tue, sondern freue mich mit ganzem Schriftstellerherz über jene Hürden. Je größer, je länger, desto besser. Ganze Romane sind so: “Die Lokomotive” und “School Shooter” – beide waren wunderbar unangenehm zu schreiben. Der eine spielt komplett unter einem entgleisten Zug, der andere in der Bibliothek einer Schule nach einem Amoklauf. Nichts Angenehmes. Nie.
Fabelhafte Bücher: Als heikel gelten auch politische Zuschreibungen, etwa Islamkritik oder Kritik an jüdischer Siedlungspolitik um nur zwei Beispiele zu nennen. Wie gehen Sie mit dem Thema um und welchen Umgang erwarten Sie sich von Autoren insgesamt zu dem Thema?
Wenn es die beste Idee ist, dann würde ich das Buch schreiben. Obwohl ich mir ehrlich gesagt keine gute Idee dazu vorstellen kann: Wenn es “heikel” wird, dann geht es doch eigentlich immer nur um ungebildete Männer ohne Persönlichkeit. Was kann man daraus schon für große Geschichten stricken? Aber wem dazu etwas einfällt, haut bitte in die Tasten. (Buchtipp: “Straße der Diebe”, Hanser Verlag – nein, nicht meins)
Fabelhafte Bücher: Wenn Sie schreiben – wie strukturieren Sie Ihren Tag? Schreiben Sie, wenn Sie gerade in Stimmung sind? Oder haben Sie sich feste Zeiten reserviert?
Für einen neuen Roman blocke ich mir ganz gern zwei-drei Monate für die Erstfassung. Meinen letzten Roman habe ich so in Hausach bei meinem LeseLenz Aufenthaltsstipendium geschrieben. Als Familie sind wir gerade umgezogen, und ich habe einen kleinen Büroraum gemietet für 120 € im Monat, warm (in Kanada). Dort schreibe ich 6 Stunden am Tag, kein Internet, nur an Romanen. E-Mails, Interviews et cetera mache ich dann wie gerade von zuhause. Ebenfalls ein bis 2 Stunden am Tag, inklusive Social Media, siehe oben, fünf Tage die Woche. Es ist also immer unterschiedlich, wann und wo ich schreibe, so wie es das Leben mir erlaubt.
Fabelhafte Bücher: Bitte verraten Sie uns etwas über Ihr aktuelles Projekt. Wovon soll Ihr nächstes Buch handeln, was können Sie schon verraten?
Hehe, das ist meine Schwachstelle, darüber spreche ich ungern, nur soviel, der Roman spielt in Kanada und den USA, und die Hauptfigur ist Jana (aus meinem Roman “Joyride Ost”, nun allerdings 17 Jahre alt)
Fabelhafte Bücher: Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch.
Ich habe zu danken, das waren etliche neue Fragen!
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