Dr. Armgard Seegers ist seit 1991 Kulturredakteurin beim Hamburger Abendblatt. In vielbeachteten Besprechungen hat sie sich auch zu umstrittenen Autoren wie Thilo-Sarrazin oder Michel Houellebecq geäußert. Als Übersetzerin hat Seegers zudem Werke von bedeutenden Schriftstellern übersetzt, u. a. Woody Allen und Richard Burton. Sie lebt in Hamburg. Ihr verstorbener Mann war der Literaturkritiker Hellmuth Karasek.
FaBü: Frau Seegers, wir haben 162 Autoren um ihre Meinung zum Literaturzirkus gebeten und dabei Einschätzungen zu den Bestsellerlisten, zu Schreibgewohnheiten und anderem mehr erhalten. Bei den Bestsellerlisten waren immerhin 23 % der Schriftsteller explizit positiv gestimmt („Hilft bei der Orientierung im Dschungel der Neuveröffentlichungen“), aber 36 % äußerten sich explizit ablehnend bis verächtlich. Fast 100 % wollen aber gern dort vertreten sein. Verstehen Sie die Skepsis?
Armgard Seegers: Klar wäre da jeder gerne drauf. Weil es einfach gute Verkaufszahlen garantiert. Es gibt ja sehr viele Buchhandlungen die natürlich mit der Spiegel-Bestsellerliste arbeiten und sogar ihre Schaufenster dekorieren. Oder auch die Bahnhofsbuchhandlungen. Die Titel gehen weg wie nix. Ich muss allerdings auch sagen, dass ich viele der Titel nicht kenne, da geht’s dann um so moderne Geschichten, wenn Oma irgendwo hinfährt, oder dass irgendeiner ein Vampir ist. So etwas interessiert mich nicht in der Literatur.
Und ich kenne auch keinen einzigen der Harry-Potter-Romane, obwohl ich weiß, dass die eigentlich gut sind. Ich sehe manchmal Quiz-Sendungen im Fernsehen und da gibt es immer mal Harry-Potter-Themen und dann merke ich, dass ich die alle gar nicht beantworten kann, obwohl ich meine, ich kenne mich mit Literatur wirklich gut aus. Ich würde sagen unter den ersten zehn Titeln der Bestsellerliste sind sieben, die mich Null interessieren. Also gar nicht. Es sind ja auch immer wieder dieselben Namen und das sind nicht immer gut geschriebene Sachen. Es gibt hingegen auch Bestenlisten…
FaBü: …Bestenlisten, die redaktionell zusammengetragen werden und nicht wie die Bestsellerlisten auf Verkaufszahlen basieren…
Armgard Seegers: …Genau. Zum Beispiel die SWF-Bestenliste. Die Bestenlisten enthalten auch manchmal so abseitige Sachen, aber das ist vielleicht gar nicht so schlecht, weil man dadurch mal auf neue Ideen kommt. Bei diesen Listen interessieren mich umgekehrt eher sieben von zehn Titeln. Weil das gute Literatur ist und das sind Neuerscheinungen die mich auf ein Buch aufmerksam machen oder ich wollte es ohnehin lesen und fühle mich dann dran erinnert. Also daran orientiere ich mich schon eher. Und wir haben in der Redaktion auch die Tendenz, die Titel die auf den Bestenlisten genannt werden, großflächig zu besprechen. An der Bestsellerliste orientieren wir uns nicht.
FaBü: Was halten Sie denn zum Beispiel von der Bestenliste des ZDF damals, wo ungefähr 250.000 Leser befragt wurden um zu so einer Art Volkskonsens über die besten Bücher zu kommen?
Armgard Seegers: Ach so, also das kann für Redaktionen nicht so interessant sein, weil das dann meist keine Neuerscheinungen sind. Ich interessiere mich also eher für Bestenlisten die das behandeln, was neu auf dem Markt ist. Das können wir in der Zeitung besprechen. Wir kriegen ja die Neuerscheinungen auch alle, oder bestellen sie uns und können das dann auch nicht mehr in dem Maße vorstellen, wie wir uns das wünschen würde.
FaBü: Bei der Masse.
Armgard Seegers: Nein, soviel ist das gar nicht mehr. Also die Verlage haben das schon deutlich zurückgefahren. Die haben uns früher ganze Kartons mit ihren Büchern einfach so geschickt und inzwischen warten die auf die Anfragen oder verschicken das, was sie für wirklich sehr wichtig halten.
FaBü: Um noch einmal kurz auf die Bestseller zu sprechen zu kommen: Von den 162 Autoren deuteten immerhin 26 an, dass sie die Listen für manipuliert halten. Wenn man unterstellt, dass Autoren in buchbezogenen Belangen gegenüber der Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich informiert sind, ist das ja eigentlich ein Ergebnis, dass verwundern muss.
Armgard Seegers: Nein, das ist ja nicht mehr so. Es war wohl eine zeitlang schon so, dass das System anfällig für Manipulation war, weil man da Titel auch drauf schieben konnte. Doch seit einigen Jahren wird genau gezählt, was über die Scanner läuft. Also mit Titel und ISBN-Nummer. Das wird gemessen. Ich glaube nicht, dass man das noch manipulieren kann und die Buchhändler haben auch viel zu viel zu tun, um da abends zu stehen und einen Titel zwanzig Mal durchzuscannen.
FaBü: Kommen wir zu einem etwas heikleren Thema, der Meinungsfreiheit. Sehr schwierig ist ja nicht erst seit dem Attentat von Paris die Befassung mit politischen und religiösen Fragestellungen. Grundhaltung: Bitte für Redefreiheit eintreten, aber nicht ich. Eine Autorin sagte uns: „Heutzutage halten sich die Feinde der Redefreiheit nicht mehr mit Bücherverbrennungen auf, es geht den Autoren gleich an den Kragen“. Trotzdem – welche Haltung wünschen Sie sich da von Autoren?
Armgard Seegers: Also ich erwarte schon, dass die Leute sich kritisch mit dem Islamismus auseinandersetzen. Auch mit den Versuchen, Regeln hier einzuführen, die sich mit der Redefreiheit nicht vereinbaren lassen. Ich würde selbst auch so etwas schreiben, aber auch nicht bis zum Anschlag. Also nur bis zu einer gewissen Grenze. Ich habe zum Beispiel Oriana Fallacis „Die Wut und der Stolz“ 2002 großflächig besprochen. Fallaci hat sich da zum zunehmenden Islamismus geäußert. Ich habe auch Drohbriefe bekommen. Ich würde mich da also schon äußern.
Ich habe auch nichts dagegen, wenn Karikaturen gedruckt werden, die manche als verletzend empfinden. Das wird es immer geben, dass sich jemand verletzt fühlt. Aber da ist der Sinn der Karikatur nicht ganz erfasst. Nicht richtig verstanden. Ich verstehe auch Autoren die sich um das Thema drücken, weil sie Angst haben. Aber es gibt ja immer so viele Themen, um das sich die Leute drücken. Ich habe mich in letzter Zeit zum Beispiel auch innerhalb der Redaktion darüber geärgert, dass alle Zeitungen wahnsinnig viel zu PEGIDA machen. PEGIDA hier und PEGIDA dort. Aber das zum Beispiel die Arbeitsbedingungen vieler Menschen sich unfassbar verschlechtert haben, dass viele Leute immer weniger verdienen und das Menschen am Arbeitsplatz unwürdige Bedingungen vorfinden – da heißt es dann, „Ja, das wissen wir doch“. Ich finde man müsste vielmehr normale Ungerechtigkeit thematisieren und nicht diese Auswüchse von Entflammten, die sich irgendwann wieder abregen.
FaBü: Wer als Autor schreibt, wie er es für richtig hält, dem droht ja nicht nur Ungemach von religiösen Fundamentalisten. Sie haben sich einmal zur Debatte von Thilo Sarrazin geäußert und beklagt, dass hier sehr viel und aggressiv tabuisiert wird. Diskurswächter bestimmen, wer wann was wie sagen darf. Ich gebe ihnen Recht, habe aber auch gemerkt dass ganze Redaktionen auf diese Linien einschwenken. Wie kann das sein, dass es hier nicht mehr Vielfalt gibt? Sitzen da nicht eigentlich die Diskurswächter?
Armgard Seegers: Natürlich sitzen die in den Redaktionen. Einer schießt sich zum Beispiel auf Westerwelle ein und sagt, das ist ja der absolute Idiot. Dann traut sich kein Mensch mehr zu sagen, ich fand den neulich aber doch mal mit seiner Rede ganz gut, oder so. Ich will damit nicht sagen, dass ich ein Westerwelle-Fan bin. Es ist nur ein Beispiel. Ich will damit sagen, dass es so eine Gefolgschaft gibt im Sinne von „das sagt man und das nicht“ innerhalb der – teilweise – Pseudointellektuellenclique.
Gerade im Kulturjournalismus gibt es diese festgefahrenen Meinungen. Also: Welche Musik ist gut. Welche Band darf man gut finden. Was sollte man lesen und was ist „bäh“. Und das stört mich ein bisschen denn es engt die ganze Wahrnehmung ein. Es geht ja noch nicht mal darum, dass das schlecht geschrieben oder gemacht ist. Wenn die politische Meinung nicht passt, dann schlägt das alles. Ich komme ja nun wirklich aus der Zeit, da hat man gegen Franz-Josef Strauß gewettert, aber mit Argumenten. Da ging es dann darum, die Argumente auseinander zu nehmen und hat nicht nur so simpel getönt, dieser oder jener sei ein Idiot.
FaBü: Die Karawane hat dann ein bestimmtes Ziel und kommt von ihrem Zug nicht mehr runter…
Armgard Seegers: Ja, absolut. Überall in den Redaktionen. Wir fühlen uns ja als Redakteure auch so als Clique. Wir beschäftigten uns alle mit dem Tagesgeschehen, auch wenn wir keine politischen Journalisten sind. Nehmen Sie ein Beispiel aus dem Kulturbereich. Eine Zeit lang war Walser der Letzte. Wegen seiner Paulskirchenrede. Die haben wir schon auch auseinandergenommen und ich hatte hinterher zwei Interviews mit Walser und habe ihm gesagt: „Das hätte Ihnen doch fast das Genick gebrochen.“ Der hat sich teilweise bis heute nicht davon erholt. Auch wer sonst nichts über Walser weiß, kann ihn doch damit in Verbindung bringen.
FaBü: Oder mit dem Roman „Tod eines Kritikers“.
Armgard Seegers: Ja das ist ja wieder noch eine andere Sache. Da ist auch wieder die Frage, ist der Roman eigentlich antisemitisch oder nicht? Einige sagen ja, andere laufen dann hinterher… Ich bin der dezidierten Ansicht, das Buch ist nicht antisemitisch. Da haben viele eben so Bausätze, wo sie sich Meinungen zusammenwürfeln. Das ärgert mich auch. Dazu kommt: Mehr als in meiner Studentenzeit fehlt mir heute, dass die Leute auch mal protestieren. Gegen teilweise unzumutbare Arbeitsbedingungen, gegen das Lohngefälle, gegen schlechte Bezahlung und 430-€-Jobs. Und das viele Leute einer regulären, anständigen Beschäftigung nachgehen und nicht mehr davon leben können. Nein, da regt man sich lieber drei Monate über PEGIDA auf. Sorry…ich rede mich hier in Rage.
FaBü: Ich habe aber auch noch ein anderes Stichwort, das für viele ein Aufregerthema ist: Rezensionen. Knapp zwei Drittel der Autoren haben Seilschaften und finanzielle Abhängigkeiten dafür verantwortlich gemacht, dass von den großen Kulturredaktionen insbesondere altbekannte Autoren besprochen würden. Viele kritisieren das, einige überaus harsch, andere zeigen Verständnis für ökonomische Zwänge. Manche fordern in Bausch und Bogen alles abzuschaffen…
Armgard Seegers: …ja dann werden die Bücher überhaupt nicht mehr besprochen…
FaBü: …das ist was dran. Trotzdem – was sind denn so konkret die Kriterien für Sie als Kulturredakteurin?
Armgard Seegers: Das erste Kriterium ist schon mal der Verlag. Wenn jemand bei Rowohlt, Fischer, Hanser und anderen bekannten Verlagen veröffentlicht, dann guck ich da schon mal ins Herbst- oder Frühjahrsprogramm. Und natürlich sehe ich mir auch die Autoren an. Um mal ein Beispiel zu nennen, selbstverständlich nimmt man es wahr, wenn Louis Begley einen neuen Roman veröffentlicht. Man will wissen, womit der sich aktuell beschäftigt. Und die Leser kennen Begley und haben da dann eben auch ein Interesse dran und schätzen ihn. Er ist ja nicht umsonst ein Bestsellerautor.
Da kann dann natürlich irgendein Herr Fitzlipubsli sagen, mein Roman kommt aber nicht vor. Gut – sollen wir jetzt, die wir acht Stunden im Büro sitzen und Nächte durchlesen, sollen wir noch bei allen möglichen Miniverlagen die Bücher entdecken? Ich kenne mehrere Menschen die schon in der Jury zum deutschen Buchpreis waren und die sagen, die haben sich fast um den Verstand gelesen. So viel kann man kaum lesen. 120 Bücher in einem halben Jahr und dann noch arbeiten? Wie soll denn das gehen. Das ist ein Buch am Tag. Wir vertrauen also schon auch den Lektoren und Verlagschefs der großen Publikumsverlage.
Das schließt nicht aus, dass man mal eine Entdeckung macht. Oder dass man mal einen Verlagsvertreter trifft, der ein Buch sehr engagiert vertritt und man wird dann neugierig. Und natürlich redet man untereinander, wir kennen in Hamburg die Kollegen beim Spiegel und NDR und so weiter und man tauscht sich aus. So wie andere Leute in der Autobranche sich eben über die neuesten Modelle austauschen, das ist ja ganz normal.
FaBü: Liebe Frau Seegers, vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Auskünfte.
Armgard Seegers: Gerne.