Ulrike Sárkány begann nach ihrem Studium der Germanistik und Anglistik in Braunschweig, Freiburg und Amherst, Massachusetts, ihre Karriere 1980 beim Deutschsprachigen Dienst der BBC in London. Zehn Jahre später war sie Literaturredakteurin beim NDR in Hannover. Ulrike Sárkány leitet heute die Literaturredaktion bei NDR Kultur und gehört der Jury des Deutschen Buchpreises an.
fabelhafte-buecher.de: Wie ist das eigentlich, wenn man eine bekannte Literaturexpertin ist. Muss man dann auch im Urlaub immer Platon im griechischen Original lesen, wie dereinst angeblich zu Guttenberg, oder darf das auch mal ein trivialer Vampirroman oder ein Harry-Potter-Roman sein?
U.S.: Sie werden lachen – etwas Triviales lese ich sogar eher während der Arbeitszeit. Denn da hat man ja eher mal das Bedürfnis. Es kommt leider darauf raus, dass man die größeren Mußezeiten dann auch nutzt, um möglichst schwergewichtige und auch schwer zu verdauende Werke zu lesen. Das ist einfach so. Weil logischerweise dieser Beruf eigentlich nur funktioniert, wenn man sowieso nicht viel anderes will im Leben als zu lesen. Sonst ist es absolut kontraproduktiv. Man darf auch nicht die Stunden zählen, die man lesend verbracht hat. Da wird man ja nur unglücklich.
fabelhafte-buecher.de: Ja das glaube ich. Das bringt mich allerdings zu einer weiteren Frage: Sie sind in diesem Jahr in der Jury zum Deutschen Buchpreis. Armgard Seegers vom Abendblatt meinte vor kurzem, es wäre fast ein Vollzeitjob, all die Bücher zu lesen, die eine solche Jury mit sich bringt. Das können ja leicht mal 150 Bücher sein…
U.S.: Ja das muss man einfach zugeben, dass das schon rein mechanisch einfach nicht zu schaffen ist, alle Bücher wirklich gründlich von vorne bis hinten zu lesen. Man wird dann doch ein bisschen oberflächlicher, wenn man schon merkt, dass man nicht gut mit dem Text zurechtkommt. Wenn man sowieso schon merkt, dass man ein negatives Urteil fällen wird, dann guckt man nur noch, wie man das sauber belegt. Das muss natürlich sein. Man kann nicht irgendwie den Daumen nach unten richten, ohne präzise benannt zu haben, woran das liegt.
fabelhafte-buecher.de: Dauert das das ganze Jahr an, die Jurytätigkeit für den Deutschen Buchpreis?
U.S.: Das reduziert sich auf ein paar Monate. Das erste Treffen war am 10. April, da haben wir dann unsere Leselisten gekriegt, aber diese Listen werden ja immer noch länger. Da ist am Anfang von 167 Titeln die Rede, die da gelesen werden sollen, das ist ja an sich schon eine irre Menge. Aber in Wirklichkeit ist es so, dass die Verlage natürlich auch nicht dumm sind. Die reichen dann erst mal die zwei Titel ein, von denen sie wollen, dass die auch mal Aufmerksamkeit kriegen. Und die anderen, von denen man weiß, dass die Kritiker sich dafür interessieren, die werden dann ohnehin nachgefordert. Ich bin übrigens sehr traurig, dass Ralf Rothmann seinen Roman „Im Frühling sterben“ nicht beim Deutschen Buchpreis einreichen lassen wollte. Er wäre mein Favorit als bester deutschsprachiger Roman des Jahres 2015 gewesen.
fabelhafte-buecher.de: Das ist ja trotzdem ein schönes Lob für Herrn Rothmann. Von den Verlagen ist das ja alles sehr taktisch gedacht.
U.S.: Ja, klar. Wer hat, der hat. Bei den großen Verlagen fällt das richtig auf. Die gehen da nicht mit ihren Top-Titeln rein. Und sauber beurteilt sein müssen sie alle. Das Niveau, wo das anfängt, ist allerdings erstaunlich weit unten.
fabelhafte-buecher.de: Tatsächlich? Das sollte man ja eigentlich nicht denken. Der Deutsche Buchpreis ist ein absolut renommierter Preis, man würde doch annehmen, da wird schon sorgfältig von den Verlagen ausgewählt.
U.S.: Hätte ich auch nicht gedacht. Aber wenn irgendjemand in einem kleinen Verlag das Gefühl hat, das ist jetzt aber das Beste, was es gibt, weil er vielleicht auch keinen Vergleich hat, dann reicht er das Buch eben ein. Das gibt es alles.
fabelhafte-buecher.de: Reden wir über eine andere Jury: Marcel Reich-Ranickis „Literarisches Quartett“ setzt im Herbst mit Volker Weidermann zu einem Neustart an: Weidermann meint, es werde null Innovation geben, alles soll bleiben, wie es ist. Ist das klug? Seit 2001 hat die Welt sich ja nun weitergedreht.
U.S.: In Wirklichkeit muss man ja sagen, dass man nur künstlich was dazu geben kann. Zu einem Gespräch über Bücher. Natürlich kann man Filmchen zeigen und sich noch alle möglichen Tricks einfallen lassen. Aber worauf es doch ankommt, ist tatsächlich immer dieses schlichte Gespräch von Leuten, die sich auskennen, über Bücher. Von daher hat er Recht, wenn er sagt: „Wir machen es wieder genauso, wie es war“. Die Frage ist natürlich: Kommt das auch wieder beim Publikum an? Dass das Literarische Quartett so ein Quotenhit war, das hing ja mit der Person Marcel Reich-Ranickis zusammen. Selbst Leute, die mit Kritikern nicht viel anfangen konnten, mochten sich aber dennoch halb tot lachen, weil der immer so die Arme in die Luft geworfen hat. Und wie er gesagt hat: „Kinder, ihr habt ja alle keine Ahnung“. Das war natürlich großes Kino und darüber konnten sich auch Leute amüsieren, die eigentlich keine Bücher lesen.
fabelhafte-buecher.de: Um trotzdem nochmal auf die Grundidee einzugehen, denn das kennen die jüngeren Leser ja nicht: Karasek hat das Format damals als Gerichtshof der Literatur bezeichnet und den konfrontativen Charakter betont. Zwei „Staatsanwälte“ dagegen, zwei „Anwälte“ dafür. Ist das nicht zu schrill?
U.S.: Das geht wie eh und je. Ich glaube, dass sich da überhaupt nichts verändert hat. Die Sorte Menschen, die das mögen, wachsen ja auch immer wieder nach. Es ist halt nur die Frage, wer dafür bezahlt wird, sowas zu machen. Einer, der viel von Literatur versteht, ist nicht unbedingt auch eine charismatische TV-Persönlichkeit. Da lassen wir uns jetzt mal überraschen mit Volker Weidermann und seinen beiden Mitstreitern Christine Westermann und Maxim Biller. Über Bücher sprechen zu dürfen, ist natürlich grundsätzlich eine tolle Art, sein Geld zu verdienen. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden getroffen, der gesagt hat: „Das ist aber ein schrecklicher Beruf, den du da hast“. Es sind doch eher alle neidisch. Weil alle eben gerne mal lesen. Auch Nachbarinnen und andere fragen immer gerne nach Buchtipps. Das ist doch ein wunderbarer Beruf.
fabelhafte-buecher.de: 2004 startete das ZDF die Aktion „Unsere Besten – das große Lesen“, bei der unter Elke Heidenreichs Regie 250.000 Menschen um ihre Meinung gebeten wurden, welches die 100 wichtigsten Bücher der Weltliteratur seien. Ähnlich wie Ihr alter Arbeitgeber BBC.
U.S.: Ja. ich erinnere mich vage daran.
fabelhafte-buecher.de: Dagegen hatte die ZEIT einige Jahre zuvor einen weniger demokratischen Ansatz: 6 Literaturexperten bildeten eine Jury. Welcher Ansatz ist überlegen?
U.S.: Ich habe die einzelnen Titel ja nicht vor Augen, könnte mir aber vorstellen, dass da viele ähnliche Ergebnisse erzielt wurden. Ich sehe zwischen Experten und Laien nicht wirklich diese Kluft, dass das unterschiedliche Welten wären. Ich glaube auch, dass ich ein wirklich gutes Buch nur genauso erkennen kann, wie jeder Laie das tut. Ich muss ja zuerst gucken, warum ich das Buch nun so gerne habe, und dann muss ich das noch formulieren können. Das ist dann der Unterschied. Aber die Wirkung der Literatur ist ja auf den Laien nicht anders als auf den Experten. Ich sehe höchstens den Unterschied, dass manchmal Menschen behaupten, dieses und jenes Buch sei das größte, das sie je gelesen hätten, weil sie sich selbst damit interessant machen wollen…
fabelhafte-buecher.de:…das ist ja auch noch ein Motiv…
U.S.:…ja, aber da gibt es dann eben Wichtigtuer. Da suchen sich manche besondere Werke raus, um sich selbst einen bestimmten Anstrich zu geben. Ich nenne Ihnen ein ganz schlichtes Beispiel: Ulysses von James Joyce. Alle Männer meinen immer, das sei ein ganz großes Buch. Frauen reden meist nicht über das Buch. Man könnte natürlich auch sagen: „Ich kann damit jetzt nicht so viel anfangen“. Aber da scheint es so unausgesprochene Übereinkünfte zu geben.
fabelhafte-buecher.de: Vielleicht gibt es die Angst, ungebildet zu erscheinen, wenn man ein allgemein hochgeschätztes Buch nicht auch auf den Sockel stellt. Ich habe noch so das Zitat von Marcel Reich-Ranicki im Kopf, der ja meinte: „Das wissen wir, dass die Deutschen ihren Ulysses überschätzen“. Der war also immerhin nüchterner.
U.S.: Man wird ja auch in der Schule so an Literatur herangeführt, dass das erst mal nicht viel mit uns zu tun hat. So dass man auch nicht wüsste, wie man da eigentlich emotional andocken soll. Und dass es dann doch so viele Mädchen gibt, die auch als Erwachsene noch gerne lesen, liegt wahrscheinlich auch daran, dass ihnen immer zugestanden wird, als Kind auch „Hanni und Nanni“ zu lesen oder anderes. Es ist doch so, dass einen ein Buch zur rechten Zeit im Leben treffen muss, damit man es wirklich gerne liest. In der Schule sind wir eben gezwungen worden, weil die Lehrer gesagt haben, wenn man das begreift, ist man ein Stück erwachsener geworden. Aber wirklich aufeinander zugegangen sind das Buch und der Schüler nie. Beim erwachsenen freiwilligen Lesen ist das dann eben die Freiheit.
fabelhafte-buecher.de: Was nervt Sie eigentlich auch mal an Autoren, wenn Sie ein Werk rezensieren? Schlechter Stil? Sendungsbewusstsein? Gibt es da Themen, mit denen ein Autor im Abseits landen kann bei Ihnen?
U.S.: So pauschal kann ich das gar nicht beantworten. Traurig finde ich es aber zum Beispiel immer, wenn man feststellt, dass jemand nur über ein reduziertes Instrumentarium verfügt. Wenn zum Beispiel eine Romanfigur immer wieder „etwas Unverständliches murmelt“. Da denkt man auch: Um Gottes Willen. Hat der denn keine größere Beschreibungsbreite? Was mich auch ganz bestimmt nervt, das ist, wenn ein Ich-Erzähler oder eine Ich-Erzählerin extrem selbstverliebt und kein bisschen humorvoll ist. Das würde mich auch abstoßen.
fabelhafte-buecher.de: Bei einer Umfrage unter 162 Autoren im Frühjahr haben wir festgestellt, dass mindestens ein Drittel die Bestsellerlisten von Spiegel und Co. ablehnen, wiewohl es schön wäre, mal drauf zu stehen. 26 von 162 deuteten sogar an, dass sie die Listen für manipuliert halten. Viele Blogger haben das in einer Anschlussbefragung ähnlich gesehen. Die große Mehrheit ist zumindest zurückhaltend. Verstehen Sie die Skepsis?
U.S.: Die Verwunderung verstehe ich schon. Ich bin ja nicht aktiv an der Erstellung von Bestseller- oder Bestenlisten beteiligt. Ich habe mir zum Beispiel damals so meine Gedanken gemacht, als Daniel Kehlmann mit seiner „Vermessung der Welt“ nun Woche um Woche diese enormen Verkaufserfolge hatte. Das hab ich mir ganz einfach so erklärt, dass das eben auch ein schickes Buch ist, das die Arztgattin der Freundin schenkt. Und dann kauft sie vielleicht gleich zehn Exemplare, weil man das überall gut mitbringen kann. Es hat eben die richtigen Zutaten, um ein Mitbringsel zu sein…
fabelhafte-buecher.de:…die Fifty Shades of Grey wohl eher weniger…
U.S.:…das geht gar nicht, ist dann ja nicht so korrekt. Und bei Kehlmann – das ist zwar ein schönes Buch. Trotzdem hat man überhaupt nicht begriffen, warum das nun so viele Menschen mit so einer Begeisterung lesen würden. Das kaufen vermögende Menschen, um es zu verschenken, und dann steht es bei jedem im Regal. Dieses Jahr gibt es übrigens Klaus Modick, „Konzert ohne Dichter“, auch ein großer Verkaufserfolg. Nicht wie „Die Vermessung der Welt“, aber auch schon ordentlich. Und das ist eben auch so ein schön aufgemachtes Cover und mit dem Foto von Heinrich Vogelers Gemälde vorne drin. Also ich glaube nicht, dass die Listen manipuliert sind, sondern dass die Gründe, warum ein Buch gekauft wird, nicht immer was damit zu tun haben, dass das die Leute so gerne lesen würden. Es ist angesagt und es tut niemandem weh, sieht aber gut aus. Wieso soll denn zum Beispiel der 23. Fall von Brunetti schon wieder sofort auf Platz 1 sein, können Sie sich das erklären?
fabelhafte-buecher.de: Das erkläre ich mir mit der treuen und über die Jahre aufgebauten Fangemeinschaft. Da hat Donna Leon sozusagen eine Marke aufgebaut, die für Fans Wiedererkennungswert hat. Der Serieneffekt hat ja schon vielen Produkten geholfen, ob im Fernsehen oder der Literatur.
U.S.: Aber irgendwann muss das Publikum doch mal gelangweilt sein. 23 mal irgendwie dasselbe Muster. Das da Pasta gekocht wird bei Brunettis zuhause. Und die Kinder bleiben auch immer gleich alt!
fabelhafte-buecher.de: Ja, das ist wahr. Das ist verdächtig.
U.S.: Und dann braucht er wieder einen Espresso, um über den Nachmittag zu kommen. Es wiederholt sich alles.
fabelhafte-buecher.de: Aber jeder war schon mal in Venedig, das eignet sich dann schon wieder als Mitbringsel.
U.S.: Da staunt man manchmal und vermutet vielleicht schnell Manipulation, obwohl es ganz simple Gründe hat. Gut, die Verlage machen natürlich Werbung und versuchen, ihr Buch in den Vordergrund zu bringen.
fabelhafte-buecher.de: Das ist ja ganz normales Wirtschaftsgebaren und den Verlagen unbenommen. Das bringt mich allerdings zu meiner nächsten Frage. Rezensionen. Knapp zwei Drittel der Autoren haben Seilschaften und finanzielle Abhängigkeiten dafür verantwortlich gemacht, dass von den großen Kulturredaktionen insbesondere altbekannte Autoren besprochen würden. Viele kritisieren das, einige auch überaus harsch, andere zeigen Verständnis für ökonomische Zwänge. Manche fordern in Bausch und Bogen alles abzuschaffen.
U.S.: Ich sehe die Gefahr. Ganz deutlich. Ich war ja in meinem Beruf vor 25 Jahren eben auch 25 Jahre jünger. Und nun bin ich in dieser Zeit immer wieder mit bestimmten Autoren in Berührung gekommen. Habe über die Jahre die neuen Werke gelesen, manche persönlich kennengelernt. Natürlich interessiere ich mich dann auch für Neuerscheinungen dieser Autoren. In der Vergangenheit haben Kritiker das sogar für unabdingbar gehalten, das Gesamtwerk eines Autors zu kennen. Sonst könnte man nicht drüber sprechen. Das ist ja nun aus der Mode gekommen. Heute gibt es haufenweise Rezensenten, die zum Beispiel Walsers letztes Buch besprechen, ohne die anderen zu kennen.
fabelhafte-buecher.de: Gut, grade bei Walser ist es nun angeraten, etwas über den Kontext zu wissen.
U.S.: Aber vielleicht ist der frischere Eindruck der bessere! Vielleicht kommt ein verstellter Blick dabei raus, wenn man das eine starke Buch in Erinnerung hat und nun ein schwaches in Händen hält und das gar nicht so empfindet. Ich sehe das also durchaus selbstkritisch, dass man sich eben auch irren kann. Es besteht immer die Gefahr, irgendwann aus der Zeit gefallen sein kann. Heutzutage hat man sowieso bei all der Komplexität immer Lücken und kann nicht mehr alles kennen. Da kann man immer mal der Blödmann sein. Ich verstehe die jüngeren Autoren, die sich nicht wahrgenommen fühlen. Die haben Recht, müssen sich aber nur was einfallen lassen.
fabelhafte-buecher.de: Haben Sie denn einen Tipp für die?
U.S.: Bestimmt haben es die jungen Autoren nach dem Krieg einfacher gehabt, weil sowieso alles neu aufgebaut werden musste. Heute sind die Strukturen schon vorhanden und fest. Das dürfte nur niemanden dran hindern, da ran zu gehen und was Neues anzufangen. Ich glaube eigentlich, dass die jungen Autoren heute manchmal zu wenig Mut haben.
fabelhafte-buecher.de: Ja? Andererseits und provokativ gefragt: Jedes Jahr buhlen im deutschsprachigen Raum weit mehr als 100.000 Bücher in Neuauflage um die Aufmerksamkeit der Leser. Gibt es nicht eigentlich zu viele Autoren und Schriftsteller? Woher dieses Mitteilungsbedürfnis?
U.S.: Selbstverständlich. Viel zu viele. Aber wem sollen wir es denn verbieten? Es ist eigentlich entsetzlich, wir müssen aber irgendwie damit umgehen. Es ist wie mit dem Eurovision Song Contest. Es ist nicht mehr so gut wie früher, als die Welt da überschaubarer war. Dennoch setzt sich dann ja doch am Ende etwas durch, was durchaus passt! Und auch bei den Autoren ist es ja oft doch so, dass die nicht von Kritikern erkannt werden, sondern durch Hörensagen bekannt werden, und dann erst merken das die Kritiker.
fabelhafte-buecher.de: „Der 100jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ ist da ein gutes Beispiel. Ein absoluter Bestseller, den die großen Feuilletons nicht haben kommen sehen. Welches sind denn so konkret die Kriterien für Sie als Kulturredakteurin? Bei BücherLeben haben sie ja teilweise das Konzept, das Hörer Bücher vorstellen. Aber auch die Hörer wählen sie ja vorher aus, damit nicht einfach immer der unbekannte Autor seine Schwester losschickt…
U.S.: Das ruckelt sich ziemlich von alleine zurecht. Letztens haben wir tatsächlich mal über „Die Blechtrommel“ gesprochen, dass passte gerade, als Günter Grass gestorben war. Aber sonst besprechen wir eher moderne Bücher. Und jeder der den Mut hat, sich da zu melden, bringt dann auch schon die nötige Eloquenz mit. Das war nie ein Problem.
fabelhafte-buecher.de: Und lädt das nicht zum Missbrauch ein? Dass ein Autor einen Bekannten losschickt?
U.S.: Ich glaube, so werden wir gar nicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen, dass dafür extra solche Komplotte geschmiedet werden. Dafür ist das Radioprogramm vielleicht gar nicht populär genug. Theoretisch wäre es denkbar, ich gebe Ihnen Recht. Wir haben ja auch erst einige Folgen gemacht seit Januar und wir sammeln noch Erfahrungen. Das Nette ist eben, dass die Leute dann auch gleich den persönlichen Bezug herstellen. Das macht der Kritiker ja eben eher nicht.
fabelhafte-buecher.de: Der wahrt die professionelle Distanz.
U.S.: Andererseits erzählt ein wirklich guter Kritiker auch immer das Erlebnis, das er mit dem Buch verbindet. Man arbeitet ja keinen Fragenkatalog ab. Wenn man es emotional ablehnt, kann man das begründen, ebenso wie wenn es einen anspricht. Elke Heidenreich hatte ja zum Beispiel auch deshalb so viel Erfolg, weil sie eine impulsive Persönlichkeit ist. Ähnlich übrigens meine Kollegin Annemarie Stoltenberg. Die ist ja hier in Hamburg und stellt bei uns jeden Dienstag ein Buch vor, tourt aber auch durch Buchhandlungen. Die Kollegin trägt so ihr Herz auf der Hand, ganz anders als der typische Kritiker, der irgendwelche Metakonstruktionen verwendet…
fabelhafte-buecher.de:…und damit mehr die eigene Belesenheit unter Beweis stellen will…
U.S.:…ja, dann denke ich mir öfters, dass ich die Kritik nur einordnen kann, weil ich das Buch schon kenne. Wenn ich das nicht kennen würde, dann ist das manchmal nicht so nachvollziehbar. Das ist so ein Aspekt, den wir im Radio natürlich mehr im Vordergrund haben, weil wir die Dinge in drei Minuten abhandeln. Das sind ja eineinhalb geschriebene Seiten, mehr ist das nicht.
fabelhafte-buecher.de: Da denkt man natürlich gleich an Tweets, die immer nur 140 Zeichen umfassen dürfen.
U.S.: Das haben wir ja als Scherz jetzt mit den 9-Sekunden-Rezensionen in der Sendung BücherLeben eingeführt. Aber man muss ja doch auch sagen, dass es immer wieder erstaunlich ist, wie klar man etwas auf den Punkt bringen kann, auch in neun Sekunden.
fabelhafte-buecher.de: Das zwingt dann zu pointierten Aussagen. Gestatten Sie mir noch eine aktuelle Frage zum Abschluss. In unserer Befragung ist deutlich geworden, dass sich viele Autoren schwer tun mit der Frage der Meinungsfreiheit. Nach dem Attentat von Charlie Hebdo herrscht die Grundhaltung: Bitte für Redefreiheit eintreten, ja, aber nicht ich. Welche Haltung wünschen Sie sich da von Autoren?
U.S.: Salman Rushdie hat sich auch nicht gewünscht, dass er mit Todesdrohungen konfrontiert wird. Das ist im Grunde auch nicht anders. Da gibt es kein Rezept. Jeder begibt sich mit dem, was er tut, unter Umständen in Gefahr und jeder kann entscheiden, diese Gefahren eben nicht mehr einzugehen. Ich habe das auch F. W. Bernstein gefragt, den deutschen Karikaturisten. Der meinte allerdings, er würde jetzt eher davon absehen, eine Mohammed-Karikatur zu zeichnen, das ist ja auch verständlich. Wir sind es nicht gewöhnt, solchen Gewaltdrohungen ausgesetzt zu sein. Aber Angst ist ganz bestimmt kein guter Berater.
fabelhafte-buecher.de: Liebe Frau Sárkány, ich sage ganz herzlichen Dank.
U.S.: Ja, gerne.