Rezension von Mona

Inhalt

Durch meine Arbeit mit traumatisierten und verhaltensauffälligen oder allgemeinhin „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen bin ich auch immer neugierig darauf, wie diese Thematik literarisch umgesetzt wird. Ich habe schon großartige Werke diesbezüglich lesen dürfen und war gespannt darauf, wie der Autor Alex Wheatle, der selber in einem Heim groß wurde, sich diesem Thema nähert.

Interessant ist erst einmal, dass er eine weibliche Protagonistin als Hauptfigur auserkoren hat; und zwar die 14-jährige Naomi, deren Mutter sich das Leben nahm und deren Vater Alkoholiker und keine verlässliche Bezugsperson für sie ist. Naomi gilt als das, was wir hierzulande unter „Systemsprenger“ verstehen: Kinder und Jugendliche, die derartige Probleme haben und/oder problematisch sind, dass sie durchs Raster fallen und scheinbar für keine Institution händelbar.  

Naomi war in Wohneinrichtungen und Pflegefamilien, konnte sich, gefangen in erlernten Mustern und Ängsten, aber nie recht integrieren. Bis ihre Betreuerin sie außerplanmäßig in eine farbige Familie steckt, in welcher sie provisorisch ihre Zeit fristen soll.  Und das ist ein Punkt, der als wirklich problematisch angesehen wird, da die Familie einen „kulturellen Einfluss auf die Identität“ von Naomi als weißem Mädchen haben könnte, was, und leider habe ich nicht herausfinden können, wie authentisch dieser Streitpunkt ist, im Amerika des Romans einen tatsächlichen Konflikt darstellt. Leider positioniert sich der Roman hier aber auch nicht eindeutig, denn auf der einen Seite nimmt die Sozialarbeiterin die Hilfe der Pflegefamilie gerne in Anspruch, auf der anderen Seite hat sie ganz eindeutig ein persönliches Problem mit dieser und kritisiert den Einfluss, die diese auf Naomi hat, beispielsweise wenn es um die Frisur geht. Entweder die Betreuerin hat latent rassistische Ansichten und hält Naomi vehement von dieser fern, oder aber sie denkt außerhalb des Systems und bringt sie deshalb in dieser Familie unter, beides gleichzeitig passt für mich nicht so ganz.

Rezension

Was der Roman meiner Meinung nach sehr schön rüberbringt, ist die Gefühlswelt unserer Protagonistin und ihre durch die Erlebnisse verursachte Unfähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden. Naomi wünscht sich nichts sehnlicher, als eine Bezugsperson. Nicht aber, weil sie sich nach Geborgenheit und Fürsorge sehnt, sondern weil sie denkt, jemanden zu brauchen, um den sie sich kümmern kann, der von ihr gebraucht wird, auf sie angewiesen ist. Denn genau so wuchs sie auf: als kleine Erwachsene, die sich um ihren Vater und ihre kleine, kaputte Familie kümmern musste und den Alltag arrangieren.  Deswegen ist es auch absolut nicht verwunderlich, dass sie sich vehement dagegen sträubt, als junge Jugendliche angesehen zu werden, um deren Fürsorge sich gekümmert werden muss und die sich an Regeln halten und erwachsene Vorbilder haben muss. Andererseits bekommt sie in besonders stressigen Situationen Flashbacks von ihrer Mutter, die sie tot in der Badewanne aufgefunden hat und trägt offen ihr Kuscheltier mit sich herum.

Eine wesentliche Rolle spielen Naomis zwei Freundinnen, die selber im Heim aufwachsen und ihre eigenen Ängste und Einstellungen auf sie übertragen und einen enormen Einfluss auf sie haben.

Fazit

Das alles für sich genommen ist eine zu Herzen gehende, tragische Geschichte einer von Grund auf verkorksten Kindheit und den Folgen, die solche Kinder mit sich zu tragen haben. Es gab nur ein paar Steine, über die ich während des Lesens gestolpert bin. Zum einen ist es Naomis Art zu reden. Sie ist respektlos, zickig und manchmal sehr eklig gegenüber ihren Mitmenschen. Absolut glaubwürdig. Aber auf der anderen Seite hat sie immer einen flotten Spruch auf den Lippen, kaum ein Spruch, kaum eine Beleidigung, die sich nicht kreativ gekonnt ihrem Gegenüber entgegenschmettert. Das sollte wohl den Unterhaltungswert ein wenig steigern, für mich fühlte es sich aber einfach aufgesetzt an. Und dann gab es kaum einen Erwachsenen, der Naomi in die Schranken gewiesen hat, die Sozialarbeiterin wirkte wahnsinnig unprofessionell und auch sonst gab es kaum Situationen, in denen Naomi vermittelt wurde, dass sie sich vollkommen falsch ihren Mitmenschen gegenüber verhält. Das hat doch den Lesespaß für mich ein wenig getrübt, auch wenn ich im Großen und Ganzen diesen Ausschnitt aus Naomis Leben gerne verfolgt habe.