Rezension von Ramon

Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“ spielt in dem erfundenen Dorf Brinkebüll in Norddeutschland. Anhand des Alltags in diesem Dorf schildert die Autorin exemplarisch, wie sich die ländliche Struktur seit den 1960er Jahren verändert hat.

Mit entscheidend für diesen Wandel war die sogenannte „Flurbereinigung“, bei der kleine verstreute Landflächen zu großen zusammengefasst werden. Welche Auswirkungen dies auf eine Dorfgemeinschaft hat, unter anderem davon erzählt sehr anschaulich dieser Roman. Denn viele alte, kleinere Bauernhöfe haben diese Umstellung nicht überlebt, während andere, die sich entsprechende Investitionen leisten konnten, immer größer wurden.

Eine Hauptfigur zwischen Stadt und Land

Hauptfigur ist der 47jährige Prähistoriker Ingwer Feddersen. Er ist im Roman eine Art Mittlerfigur zwischen Stadt und Land. Im Dorf aufgewachsen, später in die Stadt gezogen und dort aber nie so richtig angekommen. Obwohl er bald 50 wird, lebt er noch in einer Wohngemeinschaft und hat eine unentschlossene On-Off-Beziehung mit seiner Mitbewohnerin. Dann nimmt er sich ein Jahr Urlaub von seiner Lehrtätigkeit an der Kieler Universität, um wieder in seinen Heimatort Brinkebüll zurückzukehren. Dort will er sich um seine Großeltern kümmern. Er ist bei ihnen aufgewachsen und sie haben ihn erzogen. Warum diese Aufgabe nicht seine ziemlich sonderbare, nervenkranke  Mutter übernommen hat, erfährt der Leser in langen Rückblenden. Ingwers Großvater Sönke arbeitet trotz dem hohen Alter von 93 Jahren immer noch jeden Tag im Gasthof des Dorfes und ist an Schlagfertigkeit nicht zu überbieten. Ingwers Unterstützung im Betrieb kann er aber mehr als gut gebrauchen, plagen ihn doch immer mehr Leiden und Beschwerden, von Kopf- und Rückenschmerzen bis hin zu Traumata aus der Kriegszeit. Die Großmutter Ella ist nicht mehr so rüstig wie ihr Mann, den sie, da ist die Demenz schon fortgeschritten, irgendwann nicht einmal  mehr wiedererkennt. So wird Ingwer in diesem selbstgewählten Sabbatjahr zu einer unerläßlichen Hilfe für seine Großeltern, denen gegenüber er so etwas wie eine Bringschuld verspürt. Er, der weggezogen ist aus dem Dorf, nicht die Gaststube übernommen hat, sondern an die Universität gegangen ist. Für diese Entscheidung hat Opa Sönke kein Verständnis.

Fluch und Segen des Dorfes

Dörte Hansen ist selbst im Dorf aufgewachsen. Ihre Beschreibungen des Alltags sind detailreich und präzise. Der in den Dialogen behutsam eingeflochtene, ungekünstelte Dialekt trägt zur Pointierung der sehr lebendigen Figuren bei. Beschönigt wird nichts, die Autorin möchte ihren Roman denn auch weniger als Heimat- denn als Herkunftsroman verstanden wissen.

Die erzählte Zeit des Romans umfasst mehrere Jahrzehnte. Hansen ist es gelungen, dass die verschiedenen Erzähl- und Zeitebenen perfekt ineinander greifen. Nie gibt es deswegen Brüche, nie hat man das Gefühl, dadurch aus der Geschichte herausgerissen zu werden.

Das Dorf bringt andere Charaktere, Haltungen und Lebensläufe hervor als die Stadt. Werden in der Stadt nervenkranke Menschen schnell mal weggesperrt oder geraten in die soziale Isolation, so bleiben sie im Dorf oft Teil des Alltags und werden weiter ins Haus gebeten und bewirtet. Die einen empfinden das Dorf als eng und engstirnig und fliehen in die Stadt, für die anderen ist es eine Art Rettung und Schutz. Mich haben gerade die Beschreibungen der Außenseiter sehr berührt. Ich als Städter hatte das Gefühl, nach diesem Roman das Landleben und auch die Ambivalenz von Menschen, die auf dem Dorf aufgewachsen und später weggezogen sind, besser zu verstehen.

Fazit

Ein formal wie inhaltlich überaus gelungener Roman, der trotz seiner literarischen Qualitäten sehr leicht zu lesen ist. Berührend, erhellend, sehr unterhaltsam und damit uneingeschränkt zu empfehlen.