Rezension von Ramon

Inhalt

Vier Jugendliche der „Generation Z“ in Rochdale, Großbritannien, rebellieren in einer Welt, die nur unwesentlich weit von unserer Gegenwart entfernt ist, gegen den Überwachungsstaat. Alle vier stammen aus der Unterschicht und sind seelisch beschädigt. Sie brechen nach London auf und versuchen, ein Leben außerhalb des Systems zu führen. Angetrieben wird ihre Revolution von Grime, einer Musikrichtung, die ihre Wurzeln im Hip Hop hat.

Ist Sybille Bergs neuer Roman Gegenwartsanalyse oder Dystopie? Eigentlich beides, denn einerseits sind einige gegenwärtige Entwicklungen ins Extreme (und stets ins Schlimmstmögliche) gedacht. So hat sich Großbritannien zu einem totalitären Überwachungsstaat entwickelt und alle Sicherheitskräfte sind privatisiert. Der Brexit ist bereits vollzogen und die Wirtschaft wird von China kontrolliert. Eine rechte Regierung hat ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt. Daran ist allerdings die Bedingung geknüpft, dass sich jeder einen Chip mit sensiblen Daten einpflanzen lässt. Intime persönliche Details werden darüber genauso preisgegeben wie der gesundheitliche Zustand. Entsprechend wird jede der vielen Figuren im Roman auch erst mal mit einer Liste von charakterlichen und gesundheitlichen Dispositionen sowie Kaufinteressen eingeführt. Das ist der dystopische Teil.

Andererseits greift der Roman aber viele (stets die schlimmstmöglichen) Ereignisse der Gegenwart auf, liefert gewissermaßen ein „worst of“ der Konsequenzen britischer Spar- und Sozialpolitik. Tatsächlich gab es – wie im Roman – in Rochdale eine Gang von Pakistanern britischer Herkunft, die über Jahre hinweg 47 minderjährige Mädchen vergewaltigten. Dabei versagten offensichtlich alle zuständigen Stellen auf ganzer Linie, Polizei, Sozialarbeiter, Ärzte, Lehrer, sie alle reagierten nicht auf das, was die Mädchen ihnen erzählten. Auch den Londoner Hochhausbrand von 2017, bei dem im Vorfeld Warnungen vor eklatanten Sicherheitsmängeln ignoriert wurden, gab es wirklich. 71 Menschen starben in diesem „sozialen Wohnungsbau“.

In Frankreich erschien kürzlich Virginie Despentes Romantrilogie um „Das Leben des Vernon Subutex“. Auch Despentes rückt die Klassenfrage in den Mittelpunkt und stellt eine bittere Gegenwartsdiagnose. Auch bei Despentes gibt es eine Gruppe von Menschen, die über die Musik zur Rebellion finden und aus dem System aussteigen. Bei so vielen Ähnlichkeiten ist es naheliegend, die Werke miteinander zu vergleichen. 

Beide Werke erzählen vordergründig multiperspektivisch. Während das bei Despentes aber so weit geht, dass sie sich mit großer Emphase in alle Figuren einfühlt, bleibt Bergs Tonfall stets zynisch-distanziert. Die Figuren werden immer auch von außen kommentiert und bewertet. Man ist also weniger bei den handelnden Personen, sondern stärker bei der Erzählerin, die ihre – immer kunstvollen und zielsicheren – Suaden über die Figuren ergiesst. Bei der Subutex-Trilogie gab es eine ausgiebige Handlung und ich konnte stark mit den Figuren mitfühlen, hier lese ich eher eine Mischung aus Kolumne, Essay und (fiktiver) Reportage.

Fazit

GRM ist nach meinem Eindruck oft stärker feuilletonistisch als romanhaft geschrieben, wodurch der Leser in einer gewissen Distanz zum Geschehen bleibt. Die Stärke des Buchs liegt in der großen Dichte an kühlen Pointen.